»Die Unruhen begannen an einem Donnerstag. Um sechs Uhr abends. So jedenfalls erinnerte sich Amelia daran. Am sonnigen Morgen jenes Tages stand sie um kurz nach halb elf am oberen Ende der Herbert Street, in der sie wohnte, an der Kreuzung zur Crumlin Road gegenüber der Protestantischen Pommesbude, streichelte ihre Raupen und unterhielt sich mit ihren Freunden.« (S. 7)

 

Ein Leben voller Troubles

 

Amelia, von Anna Burns,
übersetzt von Anna-Nina Kroll.

Rezensiert von Ellen Dunne

Wenige Romane haben mich in den letzten Jahren so beeindruckt wie Milchmann von Anna Burns. Die im Belfaster Arbeiterviertel Ardoyne geborene und aufgewachsene Autorin gewann mit ihrer (implizit) in der nordirischen Hauptstadt angesiedelten Parabel über das Leben in totalitären, isolierten Systemen den Booker Prize 2018. Der Überraschungserfolg von Milchmann ebnete auch Anna Burns‘ Romandebüt Amelia (No Bones im englischen Original) den Weg zu einer deutschen Übersetzung.

Erschienen im Mai dieses Jahres, erhielt Anna Burns‘ Debüt, wieder kongenial übersetzt von Anna-Nina Kroll, so gut wie keine mediale Aufmerksamkeit. Wie schade! Denn die Themen, die im Milchmann zur Sprache kommen, sind in Amelia bereits angelegt. Wieder begleiten wir eine Jugendliche, beziehungsweise später eine junge Frau, die ihren eigenen Weg sucht durch das Chaos der Troubles. Aber wo ihr dritter Roman mit Andeutungen, Verklausulierung und stilistischer Distanzierung arbeitet, nimmt Anna Burns‘ Erstling erst gar keine Gefangenen.

Ellen Dunne, Foto ©Orla Connolly

Die Vorkosterin: Ellen Dunne stellt auf Irlandnews lesenswerte Bücher aus und über Irland vor. Im Salzburger Land geboren und aufgewachsen, weckten zunächst die Berichte über den Nordirland-Konflikt in den 90ern ihr Interesse an der Insel. Seit 2004 lebt sie in und um Dublin, wo sie zunächst mehrere Jahre im Google Europa-Hauptquartier arbeitete. Inzwischen ist sie freie Texterin und Autorin. Ihre bisherigen Romane und Kurzgeschichten werden bei Haymon, Suhrkamp/Insel und Eire verlegt. Auf IrlandNews schreibt sie über Literatur aus und über Irland. Mehr über Ellen gibt es unter www.ellen-dunne.com Foto: ©Orla Connolly

Amelia Lovetts Irrfahrt durch eine verrückt gewordene Welt

»Mrs. Lovett schubste ihre Kinder, die ihr jetzt im Weg waren, aus dem Weg, schnappt sich den Schürhaken vom Kamin und rannte zurück nach draußen und ebenfalls zum Auto. Sie zog dem zweiten IRA-Jungen den Schürhaken über den Schädel, doch danach konnte sie nicht mehr viel ausrichten, denn Mr. Lovett war ein Tornado, und sie musste zurückbleiben, wenn sie nicht in die Luft gerissen und mit gebrochenen Knochen mitten in Shankill, auf der anderen Seite der Barrikaden, einen Steinwurf entfernt, landen wollte. Die Nachbarn kamen aus ihren Häusern geeilt, um zuzusehen, aus sicherer Entfernung natürlich. Die Lovett-Kinder wandten sich wieder ihrem Essen zu.
Und so war von den beiden jungen Männern ganz schnell nur noch einer übrig.« (S. 70)

Die Armut? Der Konflikt direkt vor der Haustür? Die Schreckensherrschaft der Paramilitärs beider Seiten? Oder die eigene verrohte Familie? Man kann sich kaum entscheiden, wer das Leben von Amelia Lovett nun am meisten zur Hölle macht. In schlaglichtartigen Kapiteln begleiten wir Amelia durch die Jahre zwischen Beginn der „heißen Phase“ des Konflikts 1969 bis kurz vor dem Waffenstillstand 1994. Nicht immer steht sie dabei im Mittelpunkt, immer wieder werden Geschichten von Charakteren erzählt, die Teil von Amelias Leben sind oder es auch nur streifen.

Und es ist ein hartes, rohes Leben, von Anfang an, denn Amelia wächst – so wie die Autorin – an einem der sozialen und politischen Brennpunkte von Belfast auf. In einer verrückt gewordenen Welt scheinen auch viele der Menschen um sie herum den Verstand verloren zu haben. Werden je nach Naturell zu Akteuren, zu Opfern, zu emotionalen Zombies. Schon früh sucht die empfindsame und lernwillige Amelia ihren eigenen Ausweg aus dem von Armut, Machismo und Konflikt geprägten Alltag. Als Kind mit ihrer persönlichen Schatzkiste, dann in der Disco, und mit der Zeit immer mehr im Alkohol, in den Drogen. Unaufhaltsam droht Amelia im Sumpf aus Gewalt, Missbrauch und Sucht unterzugehen. Doch immer wieder packt sie der Kampfgeist, sich aus Nordirland und der Aussichtslosigkeit zu befreien. Und hat am Ende – möglicherweise – Erfolg damit.

Der Nordirlandkonflikt als intensive Achterbahnfahrt der Gefühle

Amelia ist kein Spaziergang. Es gibt brutale, ja teils schockierende Szenen, und es bricht einem regelmäßig das Herz für diese jungen, verlorenen Leben und das geplagte Nordirland. Das ist hart, das geht nahe. Aber Amelia ist auch eine sehr lohnende Lektüre für alle, die tieferes Verständnis für den nordirischen Konflikt und das Leben der unmittelbar Betroffenen entwickeln möchten, deren Hilflosigkeit und chaotischen Gefühle – wenn sie noch welche haben.

»Amelia schaffte es nach draußen und zog die Tür zu. Sie atmete tief aus. Sie lehnte sich gegen die Beerdigungsschleife und atmete langsam und genauso tief wieder ein. Ihr war schwindelig vor lauter Gefühlen. Wie überlebte überhaupt irgendjemand Gefühle? Überlebte die irgendwer? Kein Wunder, dachte sie, dass so viele keine Lust hatten, mal welche auszuprobieren.«
(
S. 289)

Anna Burns, 2020 Foto: Wikimedia Commons

Schwarzer Humor und Ironie als Rettungsanker

Bei all den schweren Themen ist Amelia leicht und flott zu lesen. Anna Burns‘ einerseits knapper, andererseits sehr immersiver, ausufernder Stil ist originell und einzigartig, aber noch nicht so experimentell und fordernd wie im Milchmann. Was beide Romane teilen sind wiederum der tiefschwarze Humor und die feine Ironie, die eigentlich tragischen Szenen eine absurde Komik verleihen und das Buch überraschend unterhaltsam machen. Zum Beispiel die Begegnung mit einem der britischen Kollaboration verdächtigen Busch.

»Schließlich warf er einem großen grünen Busch, der sich schräg vor ihnen ausgebreitet hatte, einen wütenden, finsteren, wortlosen Blick zu. Der Busch wirkte wie ein vollkommen unschuldiger Busch, der rein gar nichts im Schilde führte, aber sie waren immer noch in Belfast, da konnte man nie sicher sein. Manche Büsche waren echt, wuchsen einfach vor sich hin und gehorchten der Natur. Andere waren vom Militärgeheimdienst – und schossen Fotos. Schwer zu sagen, was dieser spezielle Busch im Schilde führte, denn das Auto fuhr schnell, und mal ganz ehrlich, wen interessierte es auch?« (S. 226)

Am Ende steht die Aussicht auf Waffenstillstand – und auf innere Aussöhnung 

So wie der Autorin Anna Burns gelingt ihrer Protagonistin schließlich die Flucht aus Belfast. Doch Nordirland und seine Probleme, so findet Amelia schmerzhaft heraus, folgen ihr auch übers Wasser. Erst, als sie sich den Traumata und den eigenen Schuldgefühlen, überlebt zu haben, stellt, gelingt ihr eine Wiederannäherung, die wiederum den Kreis zu den sich langsam anbahnenden politischen Fortschritten schließt. Ein Hoffnungsfunke, der stur weiter leuchtet, so wie Amelia stur weiterkämpft für ein besseres Leben, das am Ende zumindest im Bereich des Möglichen scheint.

Meine Meinung

Wie nicht verrückt werden in einer verrückt gewordenen Welt? Gemeinsam mit Amelia navigieren die Lesenden durch die menschlichen Tragödien und Niederungen, durch die Absurditäten und widersprüchlichen Gefühle eines Lebens, das vom Nordirlandkonflikt geformt, fast zerstört und für immer gezeichnet ist. Ein Roman, der streckenweise nur aufgrund seines dunkelschwarzen Humors und distanzierender Ironie auszuhalten ist. Und gerade deshalb lange nachhallt. Große Empfehlung!

Amelia

von Anna Burns, übersetzt von Anna-Nina Kroll
Erschienen im Tropen Verlag, 384 Seiten
25 Euro

Erhältlich im lokalen Buchhandel oder beim fairen Online-Buchhändler Buch7

Herzlichen Dank dem Tropen Verlag für das Leseexemplar.

 


Irlandnews-Buchtipps: Alle Buch-Rezensionen von Ellen Dunne gibt es hier.


Fotos:  Anna Burns über Wikimedia, Titelfoto Ellen Dunne, Foto Ellen Dunne (© Orla Connolly)