Mick Flannery, irischer Singer-Songwriter. Ein Mann und seine Lieder wie sein Land: schroff, innerlich zerrissen und gleichzeitig von atemberaubender Schönheit.

 

von Gabriele Gérard

 

Mailer # 25 vom 29.Mai 2020

Greetings. These messages still make me nervous, so unfortunately I leave them to the last minute.The last minute in this case is accompanied by a strong headache. The headache reminds me of being a young teenager, I would often have migraines, they seemed to follow changes in the weather.

I would need to lie in the dark for hours at a time while they persisted. I remember one of these times spent in a loft at my Grandmother’s house in Kerry. She had put a wet cloth around my forehead that she tightened in a knot at the back of my skull. I can still feel the relief of it, and the darkness of the loft, and I remember thinking it was a rather romantic place to die, like something out of a cowboy movie. He died alone in a dark loft with a wet rag. Dramatic, I was a teenager.

(Übersetzung am Ende dieses Beitrags)

 

Regelmäßig verschickt Mick Flannery einen „Mailer“ an die Fans, die sich dafür angemeldet haben. Kleine Ein- oder Ausblicke auf seine derzeitige Situation : Spotlights auf eine Tour in den USA, Begegnungen mit anderen, inspirierenden Künstlern oder eine Schilderung des Entstehens eines Textes oder einer Melodie für einen neuen Song. Wenn man das fertige Werk dann hört, hat man das Gefühl, ein wenig dabei gewesen zu sein, als es entstand.

Der obige „Mailer #25“ kam heute, als ich mich dran machte, ein wenig mehr über Mick Flannery zu recherchieren und zu erfahren, um es mit Euch/Ihnen zu teilen. Der Text ergänzt meine Recherche in der Weise, als er eine Episode aus der Teenagerzeit beschreibt, über die ich nichts weiter gefunden habe, aber sie vertieft das, was ich fand.

 

Ein Klischee besagt, dass man sich vor den Leisen hüten muss, denn meistens sprechen ihre Stimmen schärfer und mit größerer Reichweite als die Großmäuler. Jedes Klischee enthält ein Körnchen Wahrheit, und so kann man mit Recht sagen, dass der Singer-Songwriter Mick Flannery zwar äußerlich zurückhaltend ist, seine Songs jedoch fließend geschichtete Aspekte des menschlichen Zustands, seiner Fehler, Triumphe, und allgemeine Unsicherheiten wiedergeben.

Am 28.November 1983 in Blarney im Süden Irlands bei Cork geboren, wächst Mick Flannery in einer musikalischen Familie auf. Es wird viel gesungen, erinnert er sich, die Männer hören Tom Waits, Leonard Cohen und Bob Dylan, die Frauen Tracy Chapman und Joni Mitchell. Besonders berührt und bewegt hat ihn die Musik von Kurt Cobain und Nirvana. Mit 15 schreibt er seinen ersten Song. Obwohl seine Stimme bereits damals die Verheißung einer Karriere als Sänger besaß, beschließt er, zunächst als Steinmetz zu arbeiten. Er liest Charles Bukowski, Jonathan Miller und John Steinbeck, seine größten musikalischen Einflüsse bleiben Leonard Cohen, Bob Dylan und Tom Waits.

 

 

Während einer dreimonatigen Reise durch die USA macht er 2004 erste Kritiker auf sich aufmerksam und gewinnt in Nashville einen Wettbewerb für junge Songwriter: Tom Waits sitzt in der Jury.

„Was einem Menschen manchmal passiert, ist, dass er seiner Karriere Selbstwertgefühl beimisst, und wenn die Karriere scheitert, sinkt auch der Selbstwert. Je mehr Gewicht sie in diese Person stecken, die sie zu sein versuchen, desto mehr bereiten Sie sich auf einen größeren Sturz vor. Es besteht die Gefahr großer Ambitionen, die eher auf dem Äußeren als auf dem Inneren beruhen. “

Flannerys erstes Album Evening Train entsteht 2007 während seines Musikstudiums in Cork. Mit White Lies gelingt ihm ein Jahr später im Heimatland der Sprung in die Top Ten, Red To Blue erreicht 2012 Platz eins.

Die Musik ist tiefsinnig, wütend, melancholisch, und doch blitzt immer auch der irische Humor durch. Seine Songs verbreiten herbe Melancholie, ohne ins Folkloristische abzudriften. Man spürt seine ausweglosen Verstrickungen und seine Verzweiflung am Leben in jedem einzelnen Lied. Seine Unnahbarkeit, welche schon so manchen Reporter zum Wahnsinn getrieben hat, wird in seinen Texten deutlich zum Ausdruck gebracht.

“Der Entstehungsprozess ist der beste Teil am Songwriting. Man erschafft etwas und kann so die eigenen Gedanken ordnen. Das hat mir schon immer am meisten Spaß gemacht….“

Die Konzerte von Mick Flannery sind ein Highlight der besonderen Art. Es gibt wohl keinen scheueren Musiker auf der Bühne, und somit konzentriert man sich auf jede seiner Bewegungen und Regungen. Fällt ein Wort, brandet Begeisterung auf. Der RTÉ Guide beschrieb Flannerys Texte als “so persönlich, dass sie aus seiner tiefsten Seele geschnitzt sind” und sein Humor sei “so trocken wie ein Karfreitag“. Unberührt lässt ein Konzert von Flannery nicht. Man lacht und man weint. Ich erinnere einen Auftritt im „Franzz Club“ in Berlin, wo eine junge Frau neben mir sich in der Musik wiegte und bittere Tränen fließen lies. Ich hätte am liebsten mit ihr geweint, so sehr ergriff auch mich dieses wundervolle, kleine Solokonzert.

 

Mick Flannery empfindet das Songschreiben als den besten Teil der Arbeit eines Musikers zwischen Job und Gig, Sprechen und Singen.„Es ist niemals eine Last“ sagt Flannery über das Handwerk.

„Die Fähigkeit etwas zu erschaffen ist das Schönste. Sie ist etwas, was du immer bei dir hast und du kannst es nutzen, um dich durch das Material in deinem Kopf zu arbeiten. Du musst es ernst nehmen, wenn es gut werden soll. Das mache ich immer am liebsten – das ist wie Lego spielen. Man kann eine Menge machen aus Legosteinen.“

2013 hat er die Idee, nach Berlin zu gehen – ein großer Schritt aus der irischen Provinz. Meist fühlt er sich allein. Keine Freunde, keine Ablenkung, er nimmt die Atmosphäre der Stadt in sich auf und wird sie später in seinen Songs und Texten verarbeiten: melancholisch, wunderschön, einfühlsam und hoffnungsvoll: By the Rule – verarbeitete Erfahrungen, Geschichten, die er erlebt oder in Bars und Kneipen hört.

„Ich bin so was, wie ein Detektiv in Bezug auf Menschen – wie sind sie, wie verhalten sie sich. Du musst dich mit ihnen beschäftigen. Wenn du nur über deine eigenen Erfahrungen, deine eigenen Trennungen und Versuche schreiben willst, kannst du das auch machen, ohne das Haus zu verlassen.“

 

Mick Flannery auf der Bühne

 

Mick Flannery genießt die Anonymität der Großstadt, in der er beliebig herumgehen kann, ohne erkannt und angesprochen zu werden.

2016 überrascht uns Mick mit einem ganz anderen Album. I own you markiert eine Wende in seiner Kreativität und Themenwelt. Die Songs klingen laut und wütend. Flannery ist zutiefst schockiert von den Baltimore Events im April 2015 (Polizeigewalt an Freddie Gray) und präsentiert ein sehr sozialkritisches Album, mit dem er der Gesellschaft den Spiegel vorhält.

Sein 2019 herausgebrachtes Album Mick Flannery ist wohl sein reifstes Werk und zeigt uns einen Künstler, der – bei all den Preisen, die er in Irland erhalten hat – im Rest Europas völlig unterschätzt wird.

Besonderen Anklang fand ebenfalls 2019 sein Musical „Evening Train“, das im Rahmen des „Cork Midsummer Festivals“ aufgeführt wird und ein breiteres Publikum erreicht. Nun ist er auch auf den Hochglanzseiten irischer Magazine zu sehen, was er mit Humor hinnimmt. Auch dieses Musical, das das auf der Basis des gleichnamige Konzeptalbums entstand, trägt stark autobiografische Züge.

…“Es ist die Geschichte von zwei sehr unterschiedlichen Brüdern, die in einer mir vertrauten Umgebung, einer Kleinstadt, beheimatet sind. Ich habe mich in beiden Brüdern der Geschichte gesehen. Ich hatte / habe eine Tendenz zu Risikobereitschaft z.B. Glücksspiel (wie Luther). Ich habe, wie sie, mein ganzes Leben lang zu viel Zeit in Bars verbracht. Und: Ich war (und bin) ziemlich schüchtern, fand mich oft zu zurückhaltend, besonders wenn es um Beziehung ging, was zur Folge hatte dass ich eifersüchtig und ärgerlich auf diejenigen war, die charmanter und selbstbewusster waren (wie Frank). Dies könnte der Grund sein, warum die Brüder in dieser Geschichte auf dieselbe Frau, Grace, hereinfallen. Vielleicht habe ich versucht, die Geschichte dazu zu nutzen, herauszufinden, welchem Bruder ich in meinem Leben den Vorzug geben sollte..“ (Mick Flannery)

Eine Live-CD – aufgenommen anlässlich eines Konzertes in Cork Opera House 2019 – erschien im Juli. Der Titel „Alive“. Der Erlös aus dieser CD erhalten die Musiker und Techniker seiner Band, die mit ihm während des Lockdowns wie viele andere Künstler ohne Einnahmen waren und sind.

Viel Beachtung fanden während der Lockdowns auch seine Wohnzimmer-Konzerte“, die im Netz übertragen wurden. Wir selbst, wochenlang gestrandet in Zypern, genossen diese abendlichen Konzerte, in denen irische Musikerinnen wie Wallis Bird, Valerie June und Musiker aus anderen Ländern zugeschaltet wurden, sehr und lernten einige neue Stimmen kennen. Aber nicht nur diese Unterstützung für seine Kolleginnen und Kollegen sollten erwähnt werden.

In dieser Zeit fand Mick Flannery auch zurück zu seinen handwerklichen Fähigkeiten und schuf zwei Skulpturen aus beleuchteten Holzbuchstaben, die in Internetauktionen versteigert wurden: Darkness und Love. Der Erlös aus der Versteigerung von Darkness ging an die Einrichtung Pieta, einer Beratungsstelle für suizidgefährdete Jugendliche; der von Love an Womens Aid, eine Beratungsstelle bei häuslicher Gewalt. Diesen Frauen widmet er darüber hinaus einen sehr bewegenden Song: Run a Mile.

“Am Ende bleiben nur die Songs. Alles andere kommt und geht – die Auftritte und Tourneen mit Applaus und Anerkennung, das Getuschel und Gerede, das mit einer Album-Veröffentlichung einhergeht. Alles verschwindet. Letztlich spielt das alles keine Rolle. Aber die Songs, die du selbst schreibst, bleiben. Sie werden viele Jahre um dich sein, also verdienen sie es, mit Sorgfalt und größtem Respekt geschaffen zu werden….“ (Mick Flannery)

 

 


Die Veröffentlichungen:

2007
Evening Train
Erstveröffentlichung: 22. März 2007
EMI

2008
White Lies
Erstveröffentlichung: 18. März 2008
EMI

2012
Red To Blue
Erstveröffentlichung: 30. März 2012
EMI

2014
By The Rule
Erstveröffentlichung: Mai 2014
Universal

2016
I Own You
Erstveröffentlichung: 14. Oktober 2016
EMI

2019
Mick Flannery
Erstveröffentlichung: 5. Juli 2019
EMI

 

 

Übersetzung Mailer # 25

“Schöne Grüße. Diese Nachrichten (mailer) machen mich immer noch nervös, so dass ich sie leider bis zur letzten Minute aufschiebe. Die letzte Minute ist heute von starken Kopfschmerzen begleitet. Die Kopfschmerzen erinnern mich an meine Teenagerzeit; ich hatte oft Migräne, sie schien die Wetterveränderung anzukündigen.

Ich würde stundenlang im Dunkeln liegen müssen, während sie verharrte. Ich erinnere mich an eine Migräne in dieser Zeiten auf dem Dachboden im Haus meiner Großmutter in Kerry. Sie hatte ein feuchtes Tuch um meine Stirn gelegt, das sie zu einem Knoten auf der Rückseite meines Kopfes zusammengezogen hatte. Ich kann immer noch die Erleichterung und die Dunkelheit des Raums spüren, und ich erinnere mich, dass ich dachte, es sei ein ziemlich romantischer Ort zum Sterben, wie etwas aus einem Cowboy-Film. Er starb allein auf einem dunklen Dachboden mit einem feuchten Lappen. Dramatisch! Ich war Teenager.”

 

Mick Flannery

Mick Flannery und seine Band beim Heimspiel im Cork Opera House.

 

Fotos: Gabriele Gérard; Markus Bäuchle (2, ganz oben, ganz unten)