Das Unperfekte

Hier gibt es kein Entkommen. Der Weg führt nur durch die Schlaglöcher. In diesem Pfützen-Distrikt in Süd-Kerry hilft ein solide gefederter Allradwagen eindeutig souveräner aus der Patsche als ein sparsames Kompaktauto. Andererseits: Man kann auch einfach stehen bleiben und den Anblick der Seenlandschaft auf dem Parkplatz vor einem beliebten Pub träumerisch genießen. Zu Sonnenuntergangszeiten wirkt die Ästhetik des Unperfekten geradezu betörend. Warum aber musste ich dabei an deutsche Brücken und Straßen, an die Schulen in der alten Heimat oder an die Deutsche Bahn denken?

Irland galt einmal als das Land der 80-Prozent-Perfektion und der Viertelfinals-Mentalität. Warum perfekt sein wollen, wenn eine ungefähre Annäherung daran dicke ausreicht und es sich mit Vierfünftel-Perfektion sehr gut leben lässt? In jenen Zeiten, und die sind gar nicht so lange her, schauten irische Menschen mit einer Mischung aus Bewunderung und Belustigung auf Deutschland. Natürlich fuhr auch man und frau auf der Insel gerne einen 100 Prozent zuverlässigen Diesel Made in Germany, für hundertprozentige Besserwisser vom Kontinent hielt sich die Begeisterung allerdings in Grenzen. Das wichtigste menschliche Energiespargesetz wurde dem Nachwuchs angesichts mangelnder Ressourcen schon früh vermittelt: Du schaffst 80 Prozent Deines Projekts mit 20 Prozent Energie, die fehlenden 20 Prozent aber benötigen 80 Prozent Aufwand.

Das traditionelle Bekenntnis zur 80-Prozent-Perfektion hatte viele gute Seiten: Der Bruder der Vier-Fünftel-Perfektion heißt nämlich Freiheit, deren Schwester ist die Toleranz. Nicht ständig 100-Prozent-Ergebnisse zu verlangen, auch mit etwas weniger zufrieden zu sein, wirkt ungemein befreiend auf die Seele. Es muss nicht alles perfekt sein, auch krumm gebaute Wände schützen vor Regen, und Menschen, die äußerlich nicht dem medial diktierten Ideal entsprechen, haben es in einer fehlertoleranten Gesellschaft leichter. Das mag gemeint sein, wenn Besucher von der irischen Gesellschaft immer wieder sagten, sie sei »irgendwie menschlicher«.

Doch die Zeiten haben sich geändert. Das Land und seine Menschen sind wohlhabend geworden. Es ist viel Geld im Umlauf, der Mangel ist vertrieben, die Standards sind gestiegen. Die rasend schnelle Digitalisierung und Durch-Kommerzialisierung hat die Inselgesellschaft verändert. Menschen mögen zuvorkommend und nachsichtig sein, Computer-Algorithmen sind unnachgiebig und vergessen nichts. Wo alles messbar, dokumentiert und maschinell exekutierbar geworden ist, verschwinden die Freiräume und Spielräume – und manchmal höre ich hier neuerdings die fast ein wenig mitleidig klingende Frage: “Was ist bloß aus Deutschland geworden?”

Foto: Markus Bäuchle