Die einsamsten Menschen Europas leben wo? Sie leben in Irland. Irland gilt als das einsamste Land Europas, seit die EU-Kommission im Sommer 2023 die erste Europa-weite Einsamkeits-Studie* veröffentlicht hat. Seitdem fragen sich die Menschen im Land der hunderttausend Willkommen, der hohen Familienbindung und der global gefeierten Geselligkeit: Warum wir? Was ist mit uns nur geschehen? Was hat die Corona-Pandemie aus uns gemacht?
Die Einsamkeit, dieses nagende Gefühl der Entfremdung, der Isolierung und der Unverbundenheit, ist ein Teil des Preises, den wir für unser modernes individualisiertes Wohlstandsleben bezahlen. Das Wort Einsamkeit war vor 200 Jahren unbekannt, das Gefühl dazu wenig verbreitet. Heute leiden die Menschen im Westen unter Einsamkeit wie ihre Vorfahren einst unter Hunger und Durst. Die Rede ist von der Pandemie der Einsamkeit in postmodernen Zeiten. Zahlreiche Regierungen haben ein Ministerium für oder gegen die Einsamkeit eingeführt und versuchen, dem Massenleiden mit politischen Programmen zu begegnen. Erfolg: zweifelhaft.
Laut der EU-Studie leben die am wenigsten einsamen Menschen Europas in den Niederlanden, Tschechien, Kroatien und Österreich. Deutschland liegt im Mittelfeld. Am meisten Einsamkeit verspüren Luxemburger, Bulgaren, Griechen – und mit Abstand die Irinnen und Iren. Sind es die zu hohen Ansprüche, ist es das schlechte Wetter oder vielleicht die historisch begründete und weit verbreitete Neigung zu Verstimmtheit und Melancholie, die die Iren zu den einsamsten Menschen Europas machen? Weitgehend Einigkeit herrscht zumindest über die verheerenden Wirkungen der Lockdowns und der Isolation in den Corona-Jahren. Menschen und Gemeinschaften haben sich bis heute nicht von diesen traumatischen Erfahrungen erholt.
In einem lesenswerten Beitrag in der Irish Times legte Keith Duggan eine Spur zur ohnedies viel gescholtenen Infrastruktur- und Raum-Planung in Irland. Seit Generationen scheinen irische Regierungen darin zu versagen – mit dem Ergebnis, dass es lebendige Dörfer und lebenswerte Stadtzentren nicht mehr gibt. Die Menschen begegnen sich nicht mehr oft genug. Sie leben in infrastrukturfreien Streusiedlungen und in anonymen Schlafsiedlungen. Sie haben sich aus dem öffentlichen Raum weitgehend zurück gezogen, legen alle Wege vereinzelt und isoliert in rollenden Blechkabinen zurück. Die vielen Allein-Lebenden, die alleine in ihrer Wohnung arbeiten, sind ein maßgebliches Zeichen unserer Zeit.
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Die dritten Plätze, die Orte, wo sich Menschen zwanglos treffen können, die Orte neben Wohnort und Arbeitsplatz, lösen sich auf: Die Kirchen sind leer, die Pubs alten Stils verschwinden, und der Gaelic-Football-Platz ist längst nicht mehr jedermanns Sache. Das Wetter, das Treffen unter freiem Himmel oft erschwert, tut sein Übriges.
Aus der Sicht von Gästen bleibt es ein ungelöstes Rätsel, warum es im Land der vier regnerischen Jahreszeiten kaum überdachte Begegnungsorte gibt: Spanien hat mit Sicherheit mehr überdachte Bushaltestellen als Irland. Auf Dorfplätzen, Sportplätzen und Spielplätzen dasselbe traurige Bild: Die Menschen stehen im Regen – oder bleiben daheim. In der Notlage des Corona-Regimes hat sich immerhin in den Geschäftsstraßen Irlands etwas getan: Vielerorts haben Restaurants und Pubs überdachte Sitzplätze im Freien eingerichtet, die auch heute gerne genutzt werden. Mancherorts ist so etwas wie eine Straßenkultur entstanden.
Viele Millionen Menschen leiden heute unter Einsamkeit. Sprechen darüber tun die meisten nicht gerne. Sie halten es für persönliches Verschulden und Versagen – und erkennen nicht, dass die eigene Misere auch Millionen andere betrifft und dass sie etwas Größerem, der veränderten Sozialstruktur, geschuldet ist.
So können wir schweigend abwarten, bis Regierungen, Städte und Gemeinden vielleicht auf die Idee kommen, wieder lebens- und begegnungsfreundlichere öffentliche Räume zu schaffen. Wir können aber auch dem Rat von Psychologen folgen, bei uns anfangen und auf dieses rohe Gefühl der Einsamkeit reagieren wie auf Hunger, Durst oder eine drohende Gefahr: Wir können uns in Bewegung setzen und die Verbindung mit anderen Menschen suchen – ohne Helm und ohne Maske, zu Fuß und mit dem Fahrrad, in Projekten und Vereinigungen. Da draußen ist noch längst nicht alles einsame Wüste. Rausgehen und sich umschauen lohnt. In Irland – und nicht nur hier.
Foto: Sandra Böttcher, Grafik: EU-Studie EU-LS 2022
* Details zur EU-Studie über Einsamkeit in Europa gibt es hier.
Irland berührt auch meine einsame Seite, und ich fühle mich auf sonderbare Weise von diesem wunderschönen Land “verstanden”. Die stille, sanfte, kraftvolle und oft gewaltige Natur – manchmal auch ihre Eintönigkeit – wirft uns auf unser Innerstes zurück.
Meine Resonanz auf Landschaft, Wasser und Licht empfinde ich nirgends so intensiv wie auf der grünen Insel. Lebendigkeit pur!
vielleicht zieht es mich auch gerade deshalb nach Irland – weil ich ein einsamer Mensch bin
Verstehe ich gut, liebe Eva.
ja die gute alte Zeit, da waren die Menschen noch zufrieden, hatten noch Zeit für eine Schwatz, und ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Nöte. Man ging sich besuchen ohne jegliche Voranmeldung. Die Nachbarschaft wahr noch etwas wert, die Türen wurden nicht wie heute versperrt. Der Mensch vereinsamt zusehend, ohne gute Freunde ist das Leben nur halb so lebenswert.