Die alte Ruine an meinem Spazierweg

Geschichten von der Beara-Halbinsel im Süd-Westen Irlands (Teil 27)

von Peter Bernhardt* 

Heute erzählt Peter Bernhardt die Geschichte einer alten Ruine, an der er fast täglich auf seinem Hundespaziergang vorbei kommt. Peter versuchte erfolgreich, der Haus-Ruine in Goulane, einem Townland von Eyeries, einige Geheimnisse zu entlocken.

Mein Spaziergang mit den Hunden führt mich täglich an einer Ruine vorbei (Foto oben). Ich kann den langsamen Verfall beobachten, inzwischen seit etwa 30 Jahren. Anfangs standen noch alle vier Grundmauern. Zwischenzeitlich hatte Paddy, dem die Wiese gehört, auf der dieses Cottage steht, ein Dach aus Wellblech drauf gesetzt. Doch ein Wirbelsturm war der Ansicht, es sei eine Schande, das langsame Sterben durch ein unpassendes Dach zu verlängern und hat in wenigen Sekunden das Dach abgehoben und 20 Meter weit ins Feld geblasen. Damit Paddy auch nicht wieder auf die Idee kommt, das Dach erneut zu installieren, hat der Sturm auch gleich die Südseite und den Westgiebel einstürzen lassen.

Die alte Ruine in Goulane / Eyeries

 

Ich bleibe oft vor den Resten der alten Ruine stehen und mache mir so meine Gedanken. Darüber, wer dieses Haus wohl gebaut haben mag. Hat er dafür Hilfe aus der Familie oder von Nachbarn bekommen? War es ein junger Mann, der im Begriff stand zu heiraten und eine Familie zu gründen? In solchen Fällen wäre eine Zeitmaschine hilfreich. Ohne eine solche, bin ich auf Spekulationen und die wenigen verfügbaren historische Quellen angewiesen. Eine kleine Hilfestellung, um all diese Fragen zu lösen, habe ich von Nachbarn bekommen, die sich noch an die letzten Bewohnerinnen erinnern können. Hilfreich waren auch die Volkszählungen von 1901 und 1910, die man im Internet anschaun kann.

Blicke in die 6-inch-Maps von etwa 1840 und ein Update von etwa 1895 lassen ein Zeitfenster offen, in dem dieses Haus erbaut worden sein könnte. 1840 ist an dieser Stelle noch kein Haus verzeichnet. 1895 kann man eines ausmachen. Handfester sind dann schon die beiden Volkszählungen von 1901 und 1911. In diesem Haus lebte einstens die Familie Sheehan. Ursprünglich hatten sie wohl ein Haus etliche 100 Meter weiter östlich an dieser Straße. Davon sind aber keine Spuren mehr auszumachen. Nur die Landkarte von 1840 zeigt an dieser Stelle ein paar Gebäude.

 

Die Volkszählungs-Formulare von 1901 und 1911 helfen weiter

 

Im Volkszählungs-Formular von 1901 ist ein Jeremiah Sheehan der Kopf der Familie genannt. Sein Alter hat er mit 63 angegeben. Seinen Beruf als Farmer. Mary, seine Frau, war zu diesem Zeitpunkt 58 Jahre alt. Beide konnten nicht lesen, sprachen aber sowohl Englisch als auch Irisch. Neben diesen Eltern sind zwei Töchter aufgelistet, Annia, 20 und Maggie 18 Jahre alt. Diese beiden konnten aber lesen und schreiben. Zum Zustand des Hauses gibt es die Aussage, daß es reetgedeckt war, in späteren Jahren ein Wellblechdach bekam. Es hatte zwei Räume und über der Hälfte des Cottages war ein Dachboden, auf den man mit Hilfe einer Leiter steigen konnte. Auf der Südseite gab es zwei Fenster. Dieses Cottage wurde als drittklassig eingestuft. Nebenan muß es auch noch zwei Kuhställe gegeben haben. Eine Person war zum Zeitpunkt der Erhebung krank. Aus den Originalen ist zu ersehen, das der verantwortliche Zähler die Formulare ausgefüllt hat. Jeremiah hat dann doch noch eigenhändig unterschreiben können.

Die Volkszählung von 1911 zeigt ein differenziertes Bild. Jetzt lebten nur noch zwei junge, unverheiratete Frauen im Cottage. Norah or Norry, 24 und Maggie, Mag, 22 Jahre alt. Norah war jetzt Head of the Family und Farmer, während Maggie, die Schwester, die Bezeichnung Farm-Arbeiter bekam. Beide Eltern dürften inzwischen verstorben sein. Plötzlich war auch die Situation des Hauses eine andere. Immer noch reetgedeckt aber es gab nur einen Raum. Und von zwei Cow Sheds ist jetzt auch nur noch einer übrig geblieben.

In der Auflistung der Gebäude wurde eine Kleinigkeit vergessen. Eine etwas ungewöhnliche Hundehütte. Eine aus Steinen geschichtete Hütte, die man mit einer dicken Erdschicht abgedeckt hat. Der Eingang ist zur Straße gerichtet. Leider dient sie heute als Entsorgungs-Platz für nicht mehr gebrauchte Plastiktüten (Foto unten).

Irland Farm

Die Hundehütte, heute Tütenlager.

Die Nachbarn wußten zu berichten, daß eine der beiden Damen sichtbare Brandverletzungen im Gesicht und stark verkrüppelte Hände hatte. Solche Unfälle muß es wohl häufiger in diesen Zeiten gegeben haben, als es noch die offenen Feuerstellen gab. Öfen, wie sie erst später aufkamen, gab es nicht. Das Essen wurde im offenen Kamin zubereitet. Dazu gab es einen eisernen Kran, an dem die Töpfe hingen, oder die Töpfe wurden auf einen Dreibeinständer über das Feuer gestellt. Und so kam es vor, wenn Muttern zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt war, daß der oder die Kleine zu neugierig war und der Faszination Feuer auf den Grund gehen wollte. Und ganz schnell fiel ein kleiner Tollpatsch dann auch schon einmal ins offene Feuer und verletzte sich lebensgefährlich, wenn Mutter nicht schnell genug zupackte und den Strauchelnden rettete. Einschlägige Unterlagen verzeichnen auch Todesfälle.

Vermutlich war Norah die Unverletzte, denn sie war diejenige, an die sich die Nachbarn erinnern, wie sie mit einem übergeworfenen Schal ausging, sei es zur Kirche oder zum Einkaufen ins nahegelegene Castletownbere, immer zu Fuß, denn die Schwestern besaßen kein Pferd, keinen Esel und keinen Wagen. Maggie dagegen wagte sich nur selten aus dem Haus. Vielleicht schämte sie sich ihrer Behinderung. Die kleine Farm hatten sie in den letzten Jahren verpachtet und Neily, ein Nachbar, kaufte letztendlich das Land in den späten 40er-Jahren für den Preis von 100 Pfund.

Paddy, der ein ausgezeichnetes Gedächtnis hat, konnte sich noch an die beiden Damen erinnern und wußte auch, daß Norah im Juni 1951 und Maggie im Oktober 1958 gestorben sind. Beide wurden auf dem Friedhof in Eyeries beerdigt (Foto unten). Leider hat man ihnen keinen Grabstein setzen können. Es war wohl kein Geld vorhanden. Und so erinnert nur noch die Ruine an die beiden Ladies. Und an der Ruine nagen der Zahn der Zeit sowie Wind und Wetter.

Ich habe lange gerätselt, ob die Maggie von 1901 mit ihren 18 Jahren die gleiche Maggie im Jahre 1911 ist, denn da wird eine Maggie mit gerade einmal 22 Jahren angegeben. Auch diese „Ungereimtheiten“ findet man häufig in den Volkszählungs-Formularen. Da gibt es eine andere Familie in Goulane, wo das Familienoberhaupt angibt, 55 Jahre alt zu sein und seine Frau 66. Weiter im Formular wurde dann nach den Jahren gefragt, die man verheiratet sei. Hier wurden 48 Jahre eingetragen. Folglich hat der Mann, oder Junge mit sieben Jahren eine Frau mit 18 Jahren geheiratet. Klingt eher unwahrscheinlich. Das hätte dem Volkszähler eigentlich auffallen müssen, denn die guten Leutchen hatten auch angegeben, nicht lesen und schreiben zu können und somit wurde das Formular vom Zähler ausgefüllt. Oder haben die Leute auch schon vor 100 Jahren getrickst und getäuscht?

 

Eyeries Friedhof

Der Friedhof von Eyeries

Hier ein Link zu den Volkszählungs-Formularen der Familie Sheehan aus den Jahren 1901 und 1911.
http://www.census.nationalarchives.ie/reels/nai000501050/
http://www.census.nationalarchives.ie/reels/nai001828086/

 

PS: Peters Geschichten von der Beara Peninsula erscheinen regelmäßig hier auf Irlandnews.

Alle Fotos: Peter Bernhardt