Sie leben in den Villen von Grünwald, in den Kellern von Blankenese, in den U-Bahn-Schächten von Manhattan, in den Slums von Mumbay und auf der Farm in Ballydehob. Ratten. Die ungeliebten allgegenwärtigen Begleiter des Menschen.  Es heißt, die nächste Ratte ist nie mehr als drei Meter von Dir entfernt – immer darauf aus, sich von den Lebensmittel-Vorräten oder von den Abfällen des Menschen eine Ecke abzubeißen.

Während die Boulvardzeitungen Großbritanniens gerade die Super-Ratte von Bradford durch den Blätterwald jagen, die mehr als einen halben Meter groß sein soll, liegt man in Irland mit den verhassten Nagern in einem stillen Abnutzungskrieg, ohne darüber zu reden. Das Thema gilt als tabu, schon das Aussprechen des Wortes soll Unglück bringen. Deswegen umschreiben Iren die Ratte gerne mit dem Euphemismus “Langschwanz” (Longtail).

Schlangen gibt es in Irland bekanntlich keine, die Ratten allerdings ließ der Heilige Patrick aus, als er seine Gebete für die Insel sprach. Ratten der Art Rattus Norwegicus bevölkern deshalb Stadt und Land.  Nur ein winziger Fleck, eine kleine Insel im Norden Irlands, wehrt sich bis heute erfolgreich gegen die Invasion der nagenden Überlebenskünstler: Tory Island im County Donegal.

Seit Menschengedenken wurde auf Tory Island, das 15 Kiliometer vor er Küste liegt,  keine Ratte gesehen – und die 140 Einwohner schreiben dies der Erde von Tory zu: Die heiligeTonerde des Eilandes, so sagen sie, vertreibt die Ratten. Tonerde, ja, aber nicht ganz gewöhnliche Tonerde: Es ist die Tonerde von einem Grab auf Tory Island. In dem Grab wurden vor über einem Jahrhundert sieben Leichen beerdigt, die in einem Boot an Land von Tory gespült worden waren.

Die heilige Erde von Tory Island zählt zu den Kronjuwelen des lebendigen irischen Aberglaubens. Menschen aus ganz Irland lassen sich auch heute noch regelmäßig kleine Mengen der Erde schicken, um die Ratten vom eigenen Haus fernzuhalten. Dafür wenden sie sich übrigens an den Hüter der Erde, denn nur ein Mensch hat auf Tory das Recht, die Erde zu entnehmen und zu verteilen: Es ist nach altem Brauch das älteste Mitglied der Familie Duggan.

Philipp Duggan hatte diese ehrenvolle Aufgabe in den vergangenen 20 Jahren ausgeübt. Jetzt starb er im Alter von 86 Jahren. Zu seinem Nachfolger bestimmten die Leute von Tory in der vergangenen Woche ohne Verzug den über zehn Jahre jüngeren Willie Duggan aus der Oststadt. Der heilige Kampf gegen die Langschwänze geht also weiter. Venceremos!