Heir Island

Heir Island im Frühling. Fünf Minuten über dem Wasser liegt Cunnamore Pier

Gestern zog es mich an Irlands Südküste, in die Roaringwater Bay auf die Insel Heir Island (Hare Island). Erinnerungen an Christoph Ransmayrs Gerede kehrten zurück.

“Wer nichts erzählen kann, der hat auch nichts zu sagen.”

Dieses Motto stellt Christoph Ransmayr seinem Erzählband “Gerede. Elf Ansprachen” voran, der im Februar 2014 bei S. Fischer erschienen ist. Der österreichische Schriftsteller (geboren 1954, Selbstcharakterisierung: “Ich habe etwas Wurzelsepphaftes”) hat mehrere Jahre unweit der Roaringwater Bay im Südwesten Irlands gelebt und hat das Land ausführlich in seinen Werken gewürdigt. Im “Gerede” findet sich die Erzählung “Der Fremde von Doogort“, die so beginnt und richtig Lust auf Weiterlesen macht:

“Auf Hare Island, einer von etwa vierzig felsigen Inseln der Roaringwater Bay an der Südwestküste Irlands, führt eine in die Klippen gehauene Treppe von immergrünen Rinder- und Schafweiden zum Atlantik hinab an einen Pier, von dem die Bauern und Hirten über Jahrhunderte ans Festland ruderten. Von den ehemals etwa hundertzwanzig ständigen Bewohnern schiefergedeckter Steinhäuser der Insel sind in unseren Tagen aber nur noch sechs geblieben: Die anderen haben ihre Höfe im Glitzern des neuesten und bereits wieder verfliegenden irischen Reichtums an Anwälte, Wertpapierhändler, Zahnärzte und Geschäftsleute aus Dublin und Cork verkauft oder sind schon in den nun beinah vergessenen Elendsjahren des neunzehnten Jahrhunderts entweder ausgewandert oder verhungert. Aber die neuen und neuesten Herren auf Hare Island sind für die letzten Eingeborenen foreigners geblieben, Fremde, nicht anders als irgendein beliebiger oder mißliebiger Besucher vom europäischen Kontinent. Schließlich gilt den meisten Inselbewohnern entlang der Westküste selbst Irland als Mainland, Festland, und damit als Ausland. Wer also den schmalen Streifen eines oft unruhigen Wassers, der die Insel von der irischen Küste trennt, überquert, der fährt, segelt oder rudert in die Fremde.

Auf Hare Island ist die Krume der Schaf- und Rinderweiden dünn; zu dünn selbst für ein Grab, und deshalb wurden die Toten seit je ans Festland gerudert, um dort auf dem Friedhof von Lower Lisheen begraben zu werden, im Ausland. Und zur Verabschiedung eines Verstorbenen nahm dann an der Steintreppe zum Cunnamore Pier eine Trauergesellschaft Aufstellung, die den offenen Sarg über ein Spalier von Armen, Händen, von Treppenstufe zu Treppenstufe weiterreichte und so ans Meer hinabschaukeln ließ. Nur an diesem Tag, dem einzigen zwischen einem mühseligen Leben und der ewigen Ruhe, so sagt man auf Hare Island, werde ein Mensch von seinen Mitmenschen auf Händen getragen; für jeden Lebenden Grund genug, heißt es, sich auf seinen Todestag zu freuen.

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Hare Island

Heir Island, Roaringwater Bay, West Cork, Irland. Foto: Peter Zoeller

 

Und hier geht es weiter, wenn Sie mögen:  Christoph Ransmayr: “Gerede. Elf Ansprachen” (Buch-Link zum sozialen Online-Buchhändler Buch7). Der Text ist im übrigen eine sympathische Würdigung des Schriftstellers Heinrich Böll, der für seine Überzeugungen nicht nur literarisch sondern auch im täglichen Leben kämpfte.

 

PS: Ransmayr diagnostizierte in diesem zehnten Band der “Spielformen des Erzählens” schon im Sommer 2013 unsere unruhigen Zeiten und kam zu beunruhigenden Prognosen:

»Möglicherweise rauschen Zeiten auf uns zu, in denen die Empörung über empörende Verhältnisse weder von korrupten, von Lobbyisten unterwanderten Parlamenten zu besänftigen sein wird noch mit dem leeren Stroh von Wahlversprechen; Zeiten, in denen aus Banken, Ämtern und Polizeistationen Flammen schlagen und geplünderte Straßenzüge in schwarzem Rauch versinken.«

Wir sind auf dem Weg . . .

 

[ed30042014]