Regen

Die Zeit der Gewissheit ist vorbei. Nichts ist mehr selbstverständlich. Wie verbringen wir die Weihnachtszeit am besten? Wie feiern wir Silvester und Neujahr? Machen wir mit bei der großen Geschenke-Orgie? Suchen wir den tiefen Sinn oder lassen wir es krachen? Essen wir traditionell oder vegetarisch, vielleicht sogar vegan, den Tieren zuliebe? Brauchen wir eine Bilanz des alten Jahres? Benötigen wir all die guten Vorsätze für das neue Jahr? Was blieb von 2015 und wie leben wir 2016 besser? Noch besser? Sind die Zeiten wirklich so feindselig und kalt, wie man lesen kann? Oder geht es uns Menschen tatsächlich viel besser als vor 50 und vor 100 Jahren? Sollen wir uns der medialen Panikmache und dem Druck der sozialen Netzwerke weiter aussetzen oder einfach öfter einmal abschalten und das kleine stille Glück suchen? Was sollen wir anstreben? Was ist heute, was bedeutet morgen Erfolg?

Irlandnews.comAngesichts der vielen Diskussionen in den Medien, im Freundeskreis und in den Familien ist vor allem eines klar: Viele Menschen gingen verunsichert, tastend, fragend ins das neue Jahr. Wir suchen nach unserer Balance zwischen den Extremen: Zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Dabei sein und für sich sein, zwischen Disziplin und Hedonismus, zwischen “Einen Scheiss muss ich . . . ” und der totalen Perfektionierung des eigenen Ichs.

Wir sind aus der Zeit der Gewissheit gefallen, doch wir haben immerhin die Wahl. Wir können im Gegensatz zu anderen Menschen in anderen Kulturen entscheiden, wie wir leben wollen. Das ist noch immer unser Privileg in Europa in diesen wilden Zeiten.

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Wie haben Sie die Feiertage verbracht? Ich genieße sie noch immer, diese regensatten, stillen Tage. Der Sturm hat sogar das Telefon abgeschaltet. Nur ganz allmählich macht sich der langsam steigende Druck des 2016-er-Alltags bemerkbar. Einhalt, für ein paar Tage noch. In den Raunächten, den zwölf Nächten zwischen dem beendeten Mondjahr und dem Ende des Sonnenjahres, die wie eine Zeit außerhalb der Zeit sind, verschwinde ich gerne und mache mich unsichtbar, tauche ein, so tief es geht, in die Kontemplation – ein schönes Wort für Zusehen, Betrachten und Nichts-Tun. Dann wünsche ich mir, die Zeit stünde still, und manchmal habe ich das Gefühl, dass sie es tatsächlich tut. . .

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Die Zahl der Rück- und Ausblicke zum Jahreswechsel ist unüberschaubar geworden. Wirklich gefallen haben mir die wenigsten, die ich gelesen habe. Die mutige Kollegin Victoria White, die sich als eine der wenigen Journalisten in Irland nicht scheut, sich unbeliebt zu machen, hat an Silvester im Irish Examiner allerdings einen brillanten Ausblick geschrieben. Sie mahnt einen ganz neuen Politikstil für Irland an, eine neues Verständnis für die Prioritäten der Politik, ein neues Konzept für den Fortschritt und die Bewertung von Erfolg und ein klares Bewusstsein dafür, wie klein und fragil diese Welt geworden ist.

Oft hat man in Irland in diesen Jahren das Gefühl, dass die globalen Entwicklungen nicht wirklich ernst genommen werden und das “Weiter so” die Politik wie kaum anderswo in Europa prägt. Dem setzt Victoria White kluge Forderungen entgegen: Eine irische Energiewende, Schluss mit der Nutzung von Kohle und Torf zur Energieerzeugung, statt den angekündigten Steuerkürzungen Investitionen in die Zukunft des Landes, in die Ausbildung der jungen Menschen und zur Herstellung von mehr sozialer Gerechtigkeit; die mittelfristige Schaffung eines kostenlosen Gesundheitssystems und ein neues Konzept zur Messung von Erfolg in Politik und Wirtschaft: die Abkehr vom Bruttosozial-Produkt, statt dessen Hinwendung zum Bruttosozial-Glück.

Man kann sich kaum vorstellen, dass sich Taoiseach Enda Kenny und seine Kollegen von der Fine Gael-Labour-Regierung mit diesen Konzepten ernsthaft auseinandersetzen, und so steht zu vermuten, dass sich Victoria White einen Regierungswechsel herbei sehnt . . .

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May the roadAlles Gute für das Jahr 2016. Zum Schluss an diesem ersten Sonntag im Jahr 2016 ein irischer Segenswunsch, den fast jeder kennt, der aber in seiner deutschen und englischen Übersetzung überhaupt keinen Sinn macht. Auch ich habe diesen Segenswunsch oft gehört und dabei genauso oft nicht drüber nachgedacht, mich nur ab und zu leise gefragt: Was soll das? Kürzlich saßen wir im Crowley´s Pub zusammen und da war er wieder, der Wunsch an der Wand:

May the road rise to meet you
May the wind be always at your back
May the sun shine warm upon your face
The rains fall soft upon your fields
And until we meet again,
May God hold you in the palm of his hand

May the road rise to meet you. Möge die Straße ansteigen, um Dich zu treffen? Mein Freund Jürgen hatte darüber bereits einmal mit einem Irisch-Lehrer gesprochen und klärte sachkundig auf: Der irische Originalsatz ist irgendwann falsch ins Englische übersetzt worden. Denn im Irischen bedeutet die erste Zeile des Wunsches: Möge deine Reise erfolgreich sein. . . Das macht natürlich Sinn.

Zu demselben Ergebnis kommt die Website Englisch-Hilfen.de:

Die Übersetzung des englischen Satzes ist “Möge die Straße ansteigen um dich zu treffen.” Klingt das für dich auch so sinnlos wie für mich? Das liegt daran, dass der englische Satz eine falsche Übersetzung aus dem Irischen ist. Der irische Spruch heißt: “Go n-éirí an bóthar leat!” und bedeutet: Mögest du eine erfolgreiche Reise haben!

Die falsche Übersetzung kommt dadurch zustande, dass das Verb éirigh (go n-éirí ist die dritte Person Subjunktiv Präsens) unter anderem die Bedeutung rise auf Englisch hat. Auf Deutsch also sowas wie ansteigen, steigen, aufgehen (Sonne, Mond etc.). Das ist jedoch nur eine der möglichen Bedeutungen, denn das Verb kann auch einige andere Bedeutungen haben. Unter anderem dann, wenn es mit der Präposition le zusammen steht, dann bedeutet es nämlich Erfolg haben.

In diesem Sinne: Möge das Jahr 2016 für Sie und Euch erfolgreich sein — was auch immer Erfolg bedeutet.

Fotos: Markus Bäuchle (Das Titelfoto gibt Auskunft über das Wetter und den Ausblick in die nähere Zukunft).