Irland Freiheit

31. März 2020, Dienstag.

 

Das Drama des beruhigten Menschen. Der Philosoph der Stunde, nein dieser langen Tage und Wochen in der eigenen Wohnung, ist für mich ein Franzose aus dem 17. Jahrhundert. Blaise Pascal hat die Mathematik und das Religionsverständnis vorangebracht, er wusste auch eine ganze Menge über das schillernde Wesen des Menschen. Dieser Blaise Pascal (1623 – 1662) schrieb:

“Nichts ist dem Menschen so unerträglich, als wenn er sich in vollkommener Ruhe befindet, ohne Leidenschaften, ohne Beschäftigungen, ohne Zerstreuungen, ohne Betriebsamkeit. Dann fühlt er seine Nichtigkeit, seine Verlassenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Sogleich werden vom Grunde seiner Seele die Langeweile, der Trübsinn, die Traurigkeit, der Kummer, der Verdruss und die Verzweiflung aufsteigen.”

Pascal sagte auch:

“Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, daß sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können.”

Kommt Ihnen das bekannt vor? Das ist das Drama der menschlichen Existenz. Wir müssen immer etwas tun, schaffen, verändern, vermehren, zerstören, umbiegen, kreieren, verbessern, auslöschen. Andererseits: Wir kennen heute alle die feinen Mental-Techniken, um es doch eine Stunde oder zwei alleine auf einem Stuhl in einem Zimmer auszuhalten – und das am Ende auch noch hilfreich und bereichernd zu empfinden. Jetzt haben wir die Gelegenheit, es zu üben. Das Hamsterrad steht für Wochen still. Suchen wir uns einfach kein Ersatz-Rad, nehmen wir den Stuhl im leeren Zimmer, oder den Platz unter dem Baum, schließen wir die Augen und atmen ein . . . aus . . . ein . . . aus . . . Geht doch.

Pascal, ein Meister der starken Worte, sagte dann übrigens noch:

“Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähle ihm Deine Pläne.”

 

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Irland Corona

Irland in den Zeiten von Corona. Wir leben auf dem Land in Irlands äußerstem Südwesten, in einer Streusiedlung am westlichen Rand Europas, direkt am Atlantik. Auch in dieser einsamen, abgelegenen Gegend wird das Leben jetzt völlig vom neuartigen Coronavirus beherrscht. Wir, Eliane [e] und Markus [m], schreiben ein gemeinsames öffentliches Tagebuch über unser Leben in Irland in Zeiten von Corona. Heute schreibt Markus . . .

Die schönen Pläne, dahin. Der alte weise Mann da oben muss sich in diesen Tagen ununterbrochen vor Lachen schütteln. Auch unsere Pläne für dieses Jahr müssen ihn erheitert haben. Sie sind nun nur noch nicht eintreffende Absichtserklärungen: Die Saison unseres kleinen Wander- und Naturferien-Veranstalters Wanderlust wird im besten Fall spät starten, im schlechtesten Fall komplett ausfallen. Wir haben die ersten Ferienwochen im April und Mai, zudem einige im Juni abgesagt. Wo es um die Gesundheit geht, steht die Frage nach der nächsten Urlaubsreise sicher nicht an erster Stelle. Wir bieten unseren Gästen die volle Rückerstattung der Anzahlung an oder Wanderferien in Irland, wenn das Virus hoffentlich besiegt sein wird: Im Jahr 2021. Wir drehen dafür die Extra-Runde 2021, denn eigentlich wollte ich die Ära Wanderlust – mit Ausnahme einiger Themenwochen – nach der Saison 2020 beenden.

Wanderlust war von Beginn an angelegt als kleines, flexibles Unternehmen, immer kredit- und schuldenfrei und mit sehr überschaubaren Kosten. In einem wachstumsbetrunkenen Umfeld versuchen wir seit eineinhalb Jahrzehnten, möglichst suffizient, nachhaltig und resilient zu sein und zu handeln. Das gelang und gelingt mal besser, mal schlechter. Wenn alle Welt nach Größe und nach Mehr giert, sieht der Kleine, der gerne aus Überzeugung und Selbstbeschränkung klein bleiben will, leicht wie ein bedauernswerter Verlierer aus. Im Moment hilft es uns sehr: Wir müssen nicht nach zwei Wochen oder einem Monat Insolvenz anmelden, weil der Cash Flow versiegt und die schmächtige Substanz aufgezehrt ist. Gut ist dennoch anders.

 

 

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Wann geht es endlich wieder “Weiter so”? Die sogenannten Liberalen drücken schon wieder mächtig aufs Tempo: Gesundheit klar, Menschenleben retten logo, aber. Die Wirtschaft muss ja auch leben, wieder aufmachen, weiter machen, wieder wachsen. Dass wir heute überhaupt in den Kategorien Menschenwohl gegen Wirtschaftswohl denken, legt unsere ganze Misere offen: Die Wirtschaft müsste für den Menschen da sein. Ist sie aber nicht. Die entfesselte globale Wirtschaft schleift die Menschheit seit Jahren hinter sich her  – und deshalb misstrauen so viele Zeitgenossen mittlerweile diesem vermeintlich so alternativlosen Wirtschaftssystem.

Nun macht die naturzerstörende Mega-Wohlstands-Produktion eine Zwangspause. Ein winziges, unsichtbares, lebloses Partikel namens Corona-Virus schafft, was wir Menschen freiwillig niemals geschafft hätten: Es bremst die globale Gier-Wirtschaft in den Schleichgang. Die Wirtschaft ist eine kulturelle Errungenschaft. Sie wurde und sie wird von Menschen gemacht. Sie ist keine Naturgewalt und deshalb beeinflussbar. Wir könnten also diese Chance beim Schopf packen, das Glück im großen Unglück erkennen. Wir könnten den Weiter-so-Neo-Liberalen mit dem eindimensionalen Freiheitsbegriff das Heft des Handelns aus der Hand nehmen.

Wir können darüber nachdenken, wie wir künftig – nach der großen Krise – wirtschaften und leben wollen. Stellen wir die Weichen für eine menschlichere Wirtschaft und damit für eine menschlichere Zukunft. Diese Zukunft ist offen. Wir haben es in der Hand, ob wir in Europa künftig egoistisch oder solidarisch leben, ob es Gesundheit wieder für alle oder nur für manche gibt, ob die Chancen auf ein gutes Leben wieder gerechter verteilt werden, ob wir die soziale Sicherheit als sozial-darwinistische Privatangelegenheit oder als Grundrecht begreifen, ob Eigennutz oder Gemeinwohl die Oberhand gewinnen.

Das große Leid, das zehntausende um Luft und Leben ringende Menschen nun überall auf der Welt erfahren müssen, darf nicht umsonst sein. Denn auch dieses Leid ist menschengemacht. Obwohl die Gefahr einer kommenden Pandemie bekannt war: Wir haben uns entschieden, nicht auf diese Krise vorbereitet zu sein, keine Atemschutzmasken zu bunkern, keine Intensiv-Betten und keine Beatmungsgeräte in ausreichender Zahl für einen etwaigen Notfall bereit zu halten. Wir meinten, diese Investitionen seien überflüssig, weil sie keine Rendite abwerfen. Wir haben uns geirrt. Begreifen wir die Kurzatmigkeit und die Atemnot als große Metapher der Warnung.

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Irland Corona

 

Die Freiheit, die ich meine.  Und wenn wir dann alleine in der Wohnung sitzen, wenn das Homeoffice geschlossen ist, die Kinder nicht gezeugt oder schon im Bett, wenn wir nicht hinaus können, um uns zu unterhalten, wenn uns auch Netflix nicht mehr zerstreuen will, wenn wir uns dann wirklich selber begegnen könnten: Tun wir es doch einfach. Hallo Ich! Das ist deine-meine Chance, sich selber mal ein bisschen besser kennen zu lernen. Wie schrieb der trend- und mode-bewusste Lebens- und Liebes-Lehrer Veit Lindau  kürzlich:

Deine Freiheit beginnt mit der Bereitschaft alleine zu sein.

Also: Willkommen im Ich. Willkommen in der Freiheit.

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Meine Freiheit. Mathematik war nicht meine Stärke in der Schule. Der Grund: Ich verstand nie den tieferen Sinn der Disziplin: Ich fragte viele Lehrerjahrgänge ungehört: Wofür brauche ich Geometrie und Algebra, Winkelsätze und Integralrechnung im wirklichen Leben? Jetzt weiß ich es endlich. Gestern habe ich die Grenzen meiner Freiheit mit einer Formel berechnet, die in meinem un-mathematischen Gehirn 40 Jahre brach lag (aber immerhin vorhanden war). Die irische Regierung weist uns in diesen Tagen an, den täglichen Gang an die gesund erhaltende frische Luft auf einem Umkreis von maximal zwei Kilometern um das Haus zu begrenzen.

Schon gibt es Apps, die dem pflichtbewussten Bürger zeigen, wie weit er gehen kann, ohne mit den Anweisungen in Konflikt zu geraten: Zwei Kilometer nach Osten, Süden, Westen, Norden . . . Was aber, dachte ich mir, wenn ich die äußerste Grenze meines Freiheitsradius in Form eines Kreises um mein Haus abwanderte? Das wäre unter den gegebenen Umständen der größt-mögliche Freiheitsgrad.  Durch die Gehirndwindungen rasselten die Namen meiner Mathematiklehrer  . . . Christian Wirth muss es gewesen sein, der uns die Kreisberechnung mehr oder weniger nahe brachte –  und siehe da, die Formel tauchte ganz wundersam aus dem Urschlamm des  Unbewussten auf: Umfang gleich 2 mal Radius mal Pi .

Also: Zwei Kilometer Radius mal zwei mal 3,1416, macht: 12,57 Kilometer. Nicht schlecht. Ich kann im Abstand von zwei Kilometern in einem Kreis im unser Haus gehen und die maximale Bewegungsfreiheit von 12,57 Kilometern im Rahmen der Regeln genießen. Ich muss die Kettensäge flott machen . . .

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Auch das noch. Gestern feierte einer der Größten der untergehenden Epoche der Rock-Musik seinen 75. Geburtstag. Old Slowhand Eric Clapton. Seine Musik, die mich seit Jahrzehnten bereicherte und auch schon mal beglückte, bestückt jetzt den Soundtrack für die Zeiten von Corona: “Standing at the crossroads, try to read the signs . . .”  (Let it Grow). Oder der Cream-Klassiker White Room. Auch er beschreibt eine eher ernüchternde Erfahrung in einem immerhin weißen Quarantäne-Zimmer:

 

In a white room with black curtains near the station
Black roof country, no gold pavements, tired starlings
Silver horses ran down moonbeams in your dark eyes
Dawnlight smiles on you leaving, my contentment
I’ll wait in this place where the sun never shines
Wait in this place where the shadows run from themselves
. . .

 

Lasst Euch nicht unterkriegen.

 

Fotos: Markus Bäuchle: Eliane Zimmermann