Irlandnews Schafe und Narzissen

 

Die Veränderung wagen.  Der dritte Monat des Jahres 2022 hat begonnen. Hast Du noch Erinnerungen an die guten Vorsätze für dieses Jahr?  Wir versuchen, am Ball zu bleiben, hier auf Irlandnews geht Mein Jahr des Aufhörens in die dritte Runde.

In den vergangenen Tagen, gezwungen durch den russischen Überfall auf die Ukraine, habe ich viel über die hinter uns liegenden hedonistischen Jahrzehnte nachgedacht, in denen alles Konsumierbare, sei es materiell oder immateriell, jederzeit möglich und verfügbar erschien. Nun sind wir auf dem Weg zurück in eine bi- oder hinein in eine mutipolare Welt, die Globalisierung kommt zum Erliegen, wir werden wieder sorgfältiger wählen und entscheiden müssen. Die in der vergangenen Woche ausgelösten Veränderungen werden wohl groß sein sein.

Einerseits mögen wir nun zu Veränderungen und zum Aufhören von außen gezwungen werden, andererseits können wir wieder ein feineres Gespür dafür entwickeln, was richtig und was falsch ist und was deshalb zu tun ist. Wir können aufhören, uns weiter im “Eigentlich-müsste-man”-Stil durchzuwursteln und das bequeme Wegsehen zu kultivieren. In einem Kommentar zu einem Beitrag über meine Gefühle zum Krieg in Osteuropa schrieb Jacqueline diese wahrhaftigen Worte:

Diese (auch geistige) Bequemlichkeit hat einen verdammt hohen Preis, in jeglicher Hinsicht, nicht nur was Kriege angeht, u. a. auch was die Natur und andere Lebewesen betrifft (auch im Krieg denken die Menschen in erster Linie an sich und so gut wie garnicht an andere Erdenbewohner, die auch in Mitleidenschaft gezogen werden). Das zieht sich wie ein roter Faden durch sämtliche Lebenslagen, wer ignoriert, die Vorzeichen nicht ernst nimmt oder nicht sehen will, muß dann letztendlich fühlen. Lüge und Ignoranz zerstören, Wahrheit und Zuwendung (Liebe) heilt.

Die durch uns Menschen verursachte Zerstörung der Erde hat in vielerlei Hinsicht bedrohliche Formen angenommen. Wir Menschen aber sind die einzigen Lebewesen hier, die das Privileg haben, sich ändern zu können. Darin liegt unsere Hoffnung. Der Mensch sei das Tier, das übt, hat der Philosoph Peter Sloterdijk einmal gesagt und damit auch gemeint, dass  die guten Vorsätze dann gelingen, wenn wir die Veränderung gut einüben, wiederholen und langsam in unseren neuen Alltag integrieren. Man lässt am besten von den alten ungeliebten Gewohnheiten, indem man seine Energie auf ein neues positives Projekt konzentriert. Ich setze dem alten Verhalten ein neues, in die Zukunft gerichtetes Verhalten entgegen. Dem Aufhören voraus geht deshalb etwas Denkarbeit: Was will ich mit meinem Leben anfangen? Was ist mir wichtig? Was fördert und was schadet uns und dem Leben auf der Erde? Wie wollen wir künftig leben?

Irish Boreens

Einige laufende Langzeit-Experimente des Aufhörens

:: Wir wissen, dass Amazon den Einzelhandel und die Infrastruktur unserer Innenstädte zerstört. Wir preisen den lokalen Buchhändler und den Einzelhändler um die Ecke – und bestellen die Bücher und alles andere dann doch bei Amazon – weil es so herrlich bequem ist. “Eigentlich” aber wissen wir, dass wir nicht beim Internet-Monster kaufen sollen. Ich habe Ende Mai 2018 versucht, damit aufzuhören – und feiere nun bald vier Jahre Amazon-Abstinenz. Es geht, es geht gut – und ja, es kostet da und dort etwas mehr Mühe und etwas mehr Geld.

:: Auch die anderen großen Internet-Plattformen, wie Airbnb und Booking.com bekommen nichts von uns. Jegliche Werbung inklusive Präsenz auf Facebook und Google haben wir vor drei Jahren eingestellt – und seitdem nicht wieder begonnen, Don´t feed the monsters!

:: Wir wissen, dass exzessives Fliegen dem Klima und dem Planeten nicht gut tut. Der letzte private Flug liegt nun vier Jahre, der letzte geschäftliche dreieinhalb zurück. Dies kann keine Wiedergutmachung für zahlreiche Flugreisen in früheren Jahren sein, aber es ist der Versuch, jetzt das zu tun, was ich für richtig halte. Demnächst reise ich mal wieder mit Auto und Fähre in die alte Heimat Deutschland.

Diese Experimente des Aufhörens sind nicht etwa lästige Selbstzüchtigungen. Sie machen Spaß, geben Energie und die Gewissheit, dass wir etwas verändern können. Vor allem aber ist die Praxis des Aufhörens politisch. Wir erkennen an, dass wir unserem Verhalten in einer begrenzten Lebenswelt Grenzen setzen müssen – und wenn wir danach handeln, sind wir glaubwürdig, kongruent, selbstmächtig und mit uns im Reinen. Doch nun zum Experiment im Monat März.

 

Aufhören im März: Nicht essen und eine innere Reise machen

Mein Aufhör-Expriment im Monat März: Ich möchte eine, zwei oder vielleicht sogar drei Wochen fasten, mal eine Zeitlang nichts essen. Warum das? Weil es gut tut. Fasten ist eine alte Heilmethode zur Förderung der Gesundheit. Die Christen wählen dafür traditionell das Frühjahr, die Zeit zwischen Aschermittwoch und Ostern. In diesen 40 Tagen, die eigentlich 46 Tage sind, begeben sie sich auf eine spirituelle Reise und schaffen in sich Raum für ihren Gott. Gleichzeitig entlasten, entgiften und vitalisieren sie ihren Körper und die Organfunktionen. Natürlich geht Fasten auch ohne Gott, es ist ein Weg, eine innere Reise ohne Ziel – und klar: Fasten ist wie Essen immer auch politisch. Vielleicht entscheiden sich Menschen am Ende des Fastens, auf bestimmte Lebensmittel künftig zu verzichten. Vielleicht ernähren sie sich dann vegetarisch, essen keine Tiere mehr, oder vegan, verzichten auch auf tierische Produkte.

Ich habe vor sechs Jahren das letzte Mal konsequent gefastet und bin gespannt, wie es sich anfühlt. Ich beginne am Aschermittwoch mit einer vorbereitenden Detox-Woche, die zum Fasten hin führt.


Mein Jahr des Aufhörens: Alle Beiträge zum Thema gibt es gesammelt hier.


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Mein Jahr des Aufhörens:  Die einzelnen Experimente beginnen am  Monatsanfang und werden immer bis zu einem Monat dauern, müssen sie aber nicht. Ich werde jeweils schauen, wie weit mich das Experiment trägt. Wer will, kann mit machen: Ein Monat ohne Fleisch, ein Monat ohne Milch, ein Monat ohne Zucker, ein Monat ohne . . . das könnten Eure eigenen Experimente sein.

Welche Ideen habt Ihr? Macht mit und schreibt hier über Eure Erfahrungen. Jeder Neuanfang ist immer auch ein Aufhören: Wer nun zum Beispiel jede Woche drei mal fünf Kilometer läuft, hat seine Karriere auf der Couch beendet. Ihr könnt in den Kommentaren weiter unten schreiben oder mir eine Mail an markus@irlandnews schicken. Ich freue mich drauf und antworte gerne.

 

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Meine Inspirationen

Der fällige Paradigmenwechsel in unserem Verhalten (zum Beispiel vom Ja- in den Nein-Modus zu schalten) beschäftigt mich seit Jahren. Nun hat der geschätzte Soziologe Harald Welzer ein inspirierendes Buch zum Thema geschrieben. Er plädiert für eine neue Kulturtechnik des Aufhörens als einem Weg in eine neue Zeit. (Harald Welzer: Nachruf auf mich selbst. 2021, erhältlich hier beim sozialen Online-Buchändler Buch7).

Christian Leppert, ein stets inspirierender Gesprächspartner im Schwarzwald, hat mich vor Jahren darauf gebracht, die Veränderungen mehr spielerisch anzugehen. Vor einigen Jahren machte Christian ein Immobilitäts-Experiment. 15 Monate lang verließ er seinen Wohn- und Arbeitsort nicht (mit Ausnahme eines täglichen Spaziergangs auf den Hausberg Belchen), um zu erfahren, was das mit ihm anstellt und was es für die Gesellschaft bedeuten könnte.. Christian begreift seine Veränderungsprozesse immer als Experimente und nimmt ihnen damit den Geruch des Dringlichen und des Dogmatischen.

In Irlands Bergen habe ich von 2012 bis 2019 mit zahlreichen Menschen und Gruppen die Veränderung geübt. Wir lebten wochenweise in einem abgelegenen alten Cottage mitten in der Natur, ohne Strom, ohne Uhr und ohne Internet. Wir versuchten heraus zu finden, was wir für ein erfülltes und zufriedenes Leben benötigen, und wir haben dabei vielerlei Veränderungen versucht: Wir haben geübt, tief zuzuhören und zu schweigen statt zu meinen und zu urteilen. Wir haben geübt, Gespräche mit Inhalt zu führen und wir haben heraus gefunden, was wir alles nicht benötigen, um happy zu sein.  Über diese wertvollen Erfahrungen werde ich gelegentlich hier berichten.

Fasten kann man alleine, in Gruppen und neuerdings in virtuellen Gemeinschaften. Der Humanmediziner Rüdiger Dahlke hat maßgeblich zu einer Renaissance des Fastens beigetragen. Seine Online-Fastenbegleitung fand ich inspirierend und hilfreich.

Fotos: “Sie alle sollen leben”  von Antje Wendel, Markus Bäuchle © 2022