„Ich habe dich zurückgelassen
Auf dem Pfad der Vergangenheit,
Mit dem weißen Hauch der Blumen,
Mit den besten Stunden Gottes,
habe ich dich schließlich zurückgelassen.“

Aus Dora Sigerson Shorters Gedicht „Ireland“

 

Die Liebe zur fortwährend fremdregierten Insel Irland – vielleicht auch verklärt durch den Abstand zum Geschehen dort – und das daraus folgende Heimweh dürften wesentliche Gefühle der Dora Sigerson Shorter gewesen sein. Zumindest stellt sich dies mir so dar, der ich mich in der Beschäftigung mit der Lyrikerin und Bildhauerin in einige ihrer Gedichte vertieft habe.

Wer war diese Frau, die um die Wende zum 20. Jahrhundert große Bedeutung in der irisch-englischen Literaturszene hatte und die heute doch in Vergessenheit geraten ist?

Dora Mary Sigerson wurde am 16. August 1866 in Dublin in eine gutbürgerliche Familie hinein geboren. Ihr Vater – neben seinem Brotberuf Chirurg auch Schriftsteller –  war eine wichtige Persönlichkeit in der intellektuellen Welt Irlands. Dora sog die Freiheitssehnsucht und die Möglichkeiten der Literatur für den politischen Kampf sozusagen mit der Muttermilch ein. Schon bald stritt sie mit ihrem Vater und den Intellektuellen der Zeit in der Literatur für eine „irische Wiedergeburt“ und setzte sich politisch für das Ziel der Home Rule als wichtigem Schritt auf dem weg in die Unabhängigkeit ein. Als junge Frau war sie tief bewegt von Charles Stewart Parnell, den sie kannte. Sie trat deshalb der Nationalist Party bei. Wie bei vielen Intellektuellen war ihr Handwerkszeug für den Befreiungskampf jedoch Stift und Papier.

Die Sympathie für die Patrioten beeinflussten ihre frühen Gedichte, die 1893 erstmals erschienen und von denen auch W.B. Yeats tief beeindruckt gewesen sein soll. Zu ihren Freunden zählte Katharine Tynan, die damals ebenfalls bekannte irische Dichterin und Autorin, von der ich hier bereits das Gedicht Langsamer Frühling vorgestellt habe.

Als Dora 1895 Clement King Shorter, einen englischen Journalisten und Literaturkritiker, heiratete, zog das Paar nach England. Doch ihre Herz hing in der Fremde an der Insel. Sehnsucht und Heimweh bestimmten ihre Gefühlslage. Die tragischen Ereignisse des irischen Aufstands an Ostern 1916, waren ein schrecklicher Schlag für Dora, auf den sie mit gesundheitlichen Problemen reagierte. Sie wurde kränklich und starb am 6. Januar 1918. Die Ursache für ihren Tod wurde nie bekannt gegeben.

 

Dora Sigerson Shorter war in ihrer Zeit nicht nur eine führende Lyrikerin, sondern auch eine begabte Bildhauerin, Journalistin und Romanautorin. Doras bekannteste Skulptur ist das Denkmal für die hingerichteten Anführer des Osteraufstandes auf dem Glasnevin-Friedhof in Dublin.

 

Dora Sigerson Shorter

16. August 1866  –  6. Januar 1918

(Foto: wikipedia)

 

A Bird from the West

Dora Sigerson Shorter

At the grey dawn, amongst the falling leaves,
A little bird outside my window swung,
High on a topmost branch he trilled his song,
And ” Ireland! Ireland! Ireland!” ever sung.

“Take me,” I cried, “back to my island home;
Sweet bird, my soul shall ride between thy wings”;
For my lone spirit wide his pinions spread, ‘
And home and home and home he ever sings.

We lingered over Ulster stern and wild.
I called: “Arise! doth none remember me?”
One turned in the darkness murmuring:
“How loud upon the breakers sobs the sea!”

We rested over Connaught—whispering said:
“Awake, awake, and welcome! I am here.”
One woke and shivered at the morning grey:
“The trees, I never heard them sigh so drear.”

We flew low over Munster. Long I wept:
“You used to love me, love me once again!”
They spoke from out the shadows wondering:
You’d think of tears, so bitter falls the rain.”

Long over Leinster lingered we. “Good-bye!
My best beloved, good-bye for evermore.”
Sleepless they tossed and whispered to the dawn;
“So sad a wind was never heard before.”

Was it a dream I dreamt ? For yet there swings
In the grey morn a bird upon the bough,
And ” Ireland! Ireland! Ireland!” ever sings.
Oh! fair the breaking day in Ireland now.

Aus: The Collected Poems of Dora Sigerson Shorter (1907)

 


Alle Gedichte der Irlandnews-Serie Lyrik am Sonntag können Sie hier aufrufen: Lyrik am Sonntag


 

Das Gedicht A Bird from the West erschien im März 2014 als Wochengedicht im britischen Guardian. Die Redakteurin Carol Rumens schrieb:

 

Das Gedicht ist charakteristisch balladenhaft und verpackt eine Mischung aus Realismus und Fantasie in eine beschwörende Melodie, die reich an Alliterationen ist. Sigersons Stil ist flüssig, ungezwungen und anmutig. Sie hat auch einige Ansprüche als Naturdichterin, und dieses Gedicht gibt viele Einblicke in diese Fähigkeit.

Die erste Strophe greift die Beobachtung auf, die das Gedicht ausgelöst hat, nämlich die lebendige Präsenz eines Vogels, der sich auf einem hohen, fast blattlosen Ast schwingt, und das nachahmende “Irland! Irland! Irland!” seines Gesangs. Sigerson erwähnt die Vogelart nicht, aber ich könnte mir vorstellen, dass es sich um die irische Amsel handelt, von der sie imaginiert, dass sie aus dem Westen nach London gereist ist, wie sie selbst.

Dieser Vogelruf wird durch die Wiederholungen in der letzten Zeile der zweiten Strophe widergespiegelt: Der Vogel besucht jeden Ort der Reihe nach, lässt sich nie nieder, sondern schwebt hoch in der Luft. Von den vier Provinzen kommt Ulster, “stern and wild”, zuerst, gefolgt von Connaught und Munster. Dann wendet sich der Vogel nach Nordosten zu Sigersons Heimatprovinz Leinster, wo das letzte, höchst emotionale “Hail and Farewell” erklingt.

Vor Ort interpretieren Menschen, die die Sprecherin (also Dora) einst kannte, ihre Stimme als verschiedene Naturphänomene: das Rauschen von Wellen und Bäumen, den starken Regen, den Wind selbst. Diese Wechsel zu verschiedenen, unpersönlichen Blickwinkeln und Stimmen geben Tiefe und Pathos. Da der Fokus nicht mehr auf den persönlichen Gefühlen der Dichterin liegt, gewinnt der Leser ein umfassenderes Gefühl für die Orte und Menschen und ihre traurige Unerreichbarkeit. Die verbannte Seele kann nicht zurückkehren, oder, wenn sie zurückkehrt, nicht erkannt werden.

Eine graue, herbstliche englische Morgendämmerung rahmt das Gedicht ein. Wiederum an Märchen erinnernd, vermutet die Sprecherin am Ende, dass ihre Reise ein Traum war. Derselbe Vogel schaukelt auf seinem Ast und singt sein Lied von der Heimat. Aber die Phantasie der Exilantin ist wieder geweckt, und die ersehnte Inselheimat ist ihr schärfer und weitaus frühlingshafter präsent als ihre tatsächliche Umgebung: “Oh! Der schöne Tag bricht jetzt in Irland an!” (Übersetzung W.B. mit Hilfe von deepl.com)

 

Hier meine Nachdichtung des Gedichtes:


 

Bild: Antje Wendel (Herzlichen Dank für die Freigabe des Bildes).
Übersetzung, Nachdichtung  und Gestaltung: Werner Bartholme

QuellenWikipedia: Klick
Poem of the week, Guardian: Klick
Dora Sigerson Shorters Gedichte im Netz: Klick