Höchster Wasserfall Irlands

 

The Mare´s Tail, der Schweif der Stute. Am Wochenende, einem nassen, nebligen Tag, Irlandfans hätten ihn mystisch genannt, ging ich nach zehn Jahren Pause wieder einmal zum Mare´s Tail, Irlands höchstem Wasserfall. Das vom Felsmassiv des Hungry Hill in mehreren Strängen über 200 Meter in die Tiefe stürzende Wasser speist sich aus dem Lough Coomadavallig, einem von zwei Gletscherseen auf halber Höhe des Hungry Hill (685 Meter). In regenreichen Wintern wie diesem, tränkt der Wasserfall die gesamte Talsohle von Derreen Upper, einem Townland von Adrigole, County Cork und verwandelt es in eine schwer begehbare Wassserlandschaft. Am besten hält man guten Abstand zum Fluß und geht 20 Höhenmeter darüber am rechtseitigen Hang entlang. Beim Gehen erinnerte ich mich an meine Gedanken vor zehn Jahren:

Manche Leute halten Werbung für die Systematisierung und PR für die Perfektionierung der Lüge. Man muss nicht gar so weit gehen, um die Wirkungsmacht der zweckdienlich manipulierten Phrasen, Sätze, Bilder und Filmsequenzen anzuerkennen. Allerdings haben die beiden Disziplinen ihre besten Tage hinter sich. Fakten sind das Gegengift, und die Nachprüfbarkeit von schlichten Behauptungen, Beschönigungen und Halbwahrheiten hat sich in der vernetzten Wissensgesellschaft drastisch verbessert. So verlieren lange gültige Kommunikations-Regeln dramatisch an Gültigkeit. Zum Beispiel diese: Behaupte etwas einfach so lange, bis alle glauben, es sei wahr, und dann ist es auch wahr.

Der anglo-irische Landadel beherrschte die Anwendung dieser Regel in Perfektion und nutzte sie in vergangenen Jahrhunderten eifrig zur Erzeugung genehmer Wirklichkeiten. Nehmen wir die Feudalmenschen von Powerscourt, einem ruhmreichen Landsitz im County Wicklow, in Kutschennähe zur Hauptstadt Dublin. Powerscourt House umstrahlte eine Aura der Pracht, der Macht und der Superlative. So war es nur natürlich, dass die Leute von Powerscourt auch den fünf Kilometer vom Haus entfernten Wasserfall von Enniskerry unbesehen zum größten und besten und höchsten Wasserfall Irlands adelten. Es war immerhin ihr Wasserfall und der konnte gar nicht hoch genug sein. So wird der Sturzbach in den Wicklows bis heute als Irlands höchster gefeiert und besucht: Eine halbe Million Menschen pilgern jedes Jahr zu dem 121 Meter hohen Naturschauspiel am Fuß der Wicklow Mountains und berappen brav ihre 5,50 Euro Eintrittsgeld, um einen Superlativ erleben zu dürfen. Alleine: Es ist keiner, Millionen Wasserfallenthusiasten können irren.

Irrtum oder Schwindel? Die windigen Werber von Powerscourt müssen und dürften es spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts gewusst haben: Irlands höchster Wasserfall stürzt sich seit mindestens 10.000 Jahren auf der Westseite der Insel in die Tiefe. The „Mare´s Tail,“ der Schweif der Stute, ergießt sich aus einem Gletschersee im Felsmassiv des Hungry Hill auf der Beara Halbinsel aus über 330 Metern Höhe hinunter zur 100-Meter-Marke. Die englischen Landvermesser hatten dies in den detaillierten Karten von Irland in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts dokumentiert. Der Hungry Hill-Wasserfall ist damit über 100 Meter höher als Irlands offiziell „höchster Wasserfall.“ Das Problem: „The Mare´s Tail“ hatte im bukolischen Adrigole nie eine funktionierende PR-Abteilung im felsigen Rücken. Keiner kümmerte sich um ihn, kaum jemand wollte ihn sehen, wie er sich in anmutiger Schönheit im freien Fall erschöpft. Macht aber nichts: Er verrichtet sein Geschäft zuverlässig und unbeirrt im fast Verborgenen. Als tosender und doch so stiller Champion.

Zehn Jahre später kostet der Eintritt am Powerscourt-Wasserfall in Wicklow 6,50 Euro und die Kommunikations-Realität hat einige derbe Verwerfungen hinnehmen müssen. Der Wahrheitsbegriff leidet unter einer drastischen Ideologisierung und Moralisierung der öffentlichen Debatten, die Strategie des systematischen und beharrlichen Lügens und Ausblendens konnte in Zeiten von Trump & Konsorten erschreckende Erfolge feiern.

Ich habe die beiden Gipfel des Hungry Hill, einen der anspruchsvollsten Berge im Südwesten Irlands, von allen Seiten bestiegen. Eine Route fehlt mir immer noch: der sagenumwobene Aufstieg durch die steilen Felsklippen zwischen den beiden Gletscherseen. Ich denke, dass ich diesen Aufgang am Wochenende gefunden habe. Der Fels muss trocken sein, um ihn zu erkunden.

PS: Der Wasserfall am Hungry Hill liegt auf Privatland, es führt kein Weg zu ihm, es gibt keine Wegweiser. Parken an der R572. Die Landeigentümer wollen um Genehmigung gefragt werden.


Ein großer Dank an alle, die Irlandnews seit der Einführung der Spendenseite im vergangenen Sommer finanziell unterstützt haben. Auf Irlandnews gibt es keine Paywall. Alle aktuellen und insgesamt 3700 Beiträge aus und über Irland stehen Ihnen hier kostenlos zur Verfügung. Sie können unsere Arbeit wert schätzen, unterstützen und mit einer Spende zur Kostendeckung beitragen. Wir würden uns darüber sehr freuen. Hier geht es zum Spendenformular.


Foto: Markus Bäuchle © 2023