The Famine

Missernte in Irland: Gemälde von Rodney Charman

 

“A country is not a country without a memory of its past,
without it we have no present and no future.”
Christine Kinealy*

 

Heute stellt Sandra Böttcher ein Werk von Jerry Mulvihill vor, das das große kollektive Trauma Irlands neu bewertet und durch Bildinterpretationen eindringlich sichtbar macht.

 

Ein persönliches Vorwort

Ich habe in vielen verschiedenen Quellen über The Great Famine, die irische Hungersnot, gelesen. Keine hat mir bisher die erschütternden Fakten so ausdrücklich dargestellt wie das Buch The Truth Behind The Irish Famine, das ich im Folgenden vorstelle.

Mit diesem Buch (deutsch: Die Wahrheit hinter der Irischen Hungersnot von 1845-1852) hat es Autor Jerry Mulvihill geschafft, ein neues Licht auf das Leben des irischen Volkes während der Famine und auf die Folgen dieser katastrophalen Zeit zu werfen. Es ist ein ungeschminktes Portrait der irischen Hungersnot.

The Truth behind the Irish FamineDie Einbeziehung vieler Zitate von Augenzeugen, von Auszügen aus Tagebüchern und die gebündelte Kraft von akademischer Arbeit und künstlerischer Gestaltung in Form von Gemälden und Illustrationen ist ein Augenöffner. Ich habe tiefe Einblicke über die grauenvolle Realität erhalten, die das irische Volk in der Zeit des Großen Hungers durchlebte. Das Buch hat mich nachhaltig berührt und viele aufrichtige Gedanken hervorgerufen.

 

Einführung in das Buch 

In der Geschichte Irlands gab wohl keine Katastrophe, die tödlicher und entsetzlicher war als diejenige, die wir heute als Die Große Hungersnot oder The Great Famine kennen. Innerhalb eines Jahrzehnts starben mehr als 1,5 Millionen Menschen an Hunger, Krankheiten und Hinrichtungen, weitere zwei Millionen flohen verzweifelt aus Irland. Diese Zahlen sind lediglich Schätzungen. Die wahren Zahlen werden nie bekannt werden und sind zweifellos viel höher. Erst der armenische und der jüdische Holocaust im 20. Jahrhundert verursachten einen derartigen Verlust an Menschenleben.

Beim Schreiben des Buches hat Jerry Mulvihill zunächst die zerstörerische Beziehung Großbritanniens und Irlands in den vergangenen Jahrhunderten untersucht. Das Buch zeigt auf, wie die Bedingungen für eine Hungersnot in Irland überhaupt entstehen konnten. Englands militärischer Führer des 17. Jahrhunderts, Oliver Cromwell, und seine riesigen Armeen schlugen am härtesten zu und dezimierten das irische Volk brutal, wodurch die Bevölkerung um 41 Prozent reduziert wurde. Die verbliebenen Einheimischen wurden gezwungen, in die ärmsten und unfruchtbarsten Gebiete im Westen Irlands zu ziehen. Zur Hölle oder nach Connacht war das berüchtigte Zitat von Cromwell. Tausende wurden zudem in die Sklaverei nach Barbados oder auf die Westindischen Inseln verschifft.

Im Jahr 1695 setzten die Briten die Strafgesetze (“Penal Laws”) in Irland durch, die die Menschen ihrer Sprache, Religion und ihres Rechts auf Bildung beraubten. Mit der Zeit waren die Iren Fremde in ihrem eigenen Land geworden, reduziert auf eine abgrundtiefe Form von Bauerntum, gedrängt in eine miserable Existenz als unwissendes Volk. Englische Grundbesitzer übernahmen große Teile des Landes. Kurz vor Ausbruch der Hungersnot in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Irland in seiner Gesamtheit in 10.000 Ländereien aufgeteilt, obwohl die Bevölkerung inzwischen auf weit über acht Millionen angewachsen war.

Der irische politische Führer Daniel O’Connell erreichte 1829 die katholische Emanzipation für sein Volk, aber für die verarmten Iren war es zu spät. Großbritannien hatte die Iren unterdrückt, ausgegrenzt und zu einem Leben in Lehmhütten, mit Kartoffeln als einziger Nahrungsquelle, gezwungen. Diese Feldfrüchte wuchsen auf schlechtem Boden und lieferten gerade genug Nährstoffe für das Überleben.

Ein giftiger Pilz breitete sich 1845 über das Inselland (und schließlich auch auf dem europäischen Kontinent) aus und vernichtete die Kartoffelernten. Im selben Zeitraum wurden jährlich Nutzvieh, Butter, Milch, Hafer, Weizen und Gerste im Wert von mehreren Millionen Pfund von irischen Häfen in Richtung Großbritannien verschifft. Da die geschwächten Menschen ihrer Arbeit nicht länger nachgehen konnten, wurden sie von den britischen und anglo-irischen Landbesitzern aus ihren armseligen Behausungen vertrieben und schutzlos der Witterung ausgesetzt.

Wie sah die Antwort Großbritanniens auf dieses heraufbeschworene Unglück in seinem neuen Herrschaftsgebiet aus? Die daraus folgende Katastrophe kennen wir heute als die Große Hungersnot.

 

Die Wahrheit hinter der Hungersnot

Jerry Mulvihill hat drei Jahre für die umfangreichen Recherche-Arbeiten zu The Truth Behind The Irish Famine investiert. Er war der Meinung, dass viele Unwahrheiten und Ungerechtigkeiten kursierten, denen er auf den Grund gehen wollte, um sie anschließend richtig zu stellen.

Der Autor gab 72 Gemälde bei sechs Künstlern in Auftrag. Jedes Bild ist von einem historischen Zitat eines Augenzeugen abgeleitet. Diese Kunstwerke sollen ein besseres Verständnis dieser schrecklichen Epoche ermöglichen. Er erklärte den Künstlern, dass Knochen durch die Haut zu sehen, Gesichter ausgehöhlt waren und in manchen Fällen Nacktheit notwendig war – das genaue Gegenteil der viktorianischen Bildsprache.

Sein Wunsch war es, diese Zeit der Geschichte genau so darzustellen, wie sie in den Geschichtsbüchern und in anderen Quellen beschrieben wurde. Die Traurigkeit, das Grauen, die Vertriebenen, die Sterbenden, die Emigranten und der Export von Lebensmittel – all die Realitäten des Großen Hungers, die bis jetzt visuell verborgen waren.

 

The Great Famine

Vertreibung, Mutter mit drei Kindern. Gemälde von Rodney Charman

 

Die Große Hungersnot Irland

Vertreibung, Gewalt an Familie. Ein Gemälde von Danny Howes

 

Irland Hungersnot

Arbeitsdienst. Ein Gemälde von Danny Howes

 

 

Mangel an Visualisierung

In einem Artikel in der Irish Times (19. März 2021) beschreibt Jerry Mulvihill den Mangel an zeitgenössischen detaillierten Abbildungen:

„Wenn Sie den Louvre in Paris oder die Borghese in Rom betreten, finden Sie dort jahrhundertealte Gemälde, die die Vergangenheit ihrer Nationen darstellen. Viele von ihnen sind von dunkler Natur. Dies ist die Wahrheit. Leider mangelt es den Galerien in Irland an Bildern aus der Vergangenheit unseres Landes, insbesondere aus der Zeit des Großen Hungers. Die Fotografie war Mitte der 1840er Jahre in Irland noch nicht verbreitet und die irischen Künstler jener Zeit waren auf eine britische Klientel angewiesen.

Die Seltenheit von Gemälden des Großen Hungers ist vielleicht auf die Abneigung der Künstler zurückzuführen, ungeschminkte menschliche Figuren abzubilden, aber auch auf die Anforderungen des Kunstmarktes. Die Künstler jener Zeit konnten das extreme Ausmaß der Katastrophe, die sich um sie herum entfalten sollte, nicht ahnen, und schon gar nicht die durchschlagenden Auswirkungen, die sie auf nachfolgende Generationen haben würde. Die Visualisierungen wurden durch politische, soziale und kulturelle Interpretationen gefiltert… In der Malerei wurden Gewalt und Bedrängnis für die Empfindlichkeiten der Reichen abgemildert. Die Künstler wurden geschult, klassisch zu malen und den menschlichen Körper idealisiert darzustellen.“

 

Mutter und Kind. Ein romantisiertes Bild von Robert Fripp

 

Dank an die Familie

Jerry erläutert seine Motivation und richtet seinen Dank an die Familie:

“Da ich in Kerry aufgewachsen bin, wusste ich immer von der Hungersnot, und die Ruinen dieser Zeit sind über die Landschaft verstreut. Mein besonderer Dank gilt meinem Vater, meinem treuen Reisegenossen, der mich durch ganz Irland begleitet hat und mit mir alte Ruinen und Sehenswürdigkeiten besuchte. Seine Begeisterung und Leidenschaft für das Thema haben mich mitgerissen und enorm zu diesem Buch beigetragen.”

Jerry Mulvihill’s Tante, Anne Nyren, die auch seine Lektorin ist, sagt: „Das Buch ist ein tragbares Museum.“

In der englischen Ausgabe von „The Truth Behind The Irish Famine“ schreibt Jerry’s Vater, John Mulvihill, ein tief berührendes Gedicht, das mit Genehmigung des Autors hier auf Irlandnews veröffentlicht werden darf.

 

Crown of Thorns

 

I walked the road again today.

For I have nothing else to do.

 

I leave behind the smoking ruins

Of the evicted and the poor,

Their lives laid bare to the elements

And whatever comes their way.

 

I passed a woman stretched in a ditch

Between the rushes and the furze.

She had three small children by her side,

I cast a quick glance on her face.

She caught my eye and said

Take my children, take my children.

 

I blessed myself and walked away.

I saw her pale, pale face and sunken eyes as I walked on along the road

I cursed myself and Ireland for we were of no use.

 

I wondered who she was, and where she came from

How sad it was for me today to have met this family.

A woman stripped of motherhood and Mother Nature’s way

But she and they, like me, fell victims to the crown.

 

Our nearest neighbour so strong and fierce, will starve us to the clay.

One woman wears a crown of jewels the other a crown of thorns.

 

John Mulvihill – 2017

 

 

The Famine

Menschen aßen in ihrer Verzweiflung sogar Gras. Ein Gemälde von Gerardine Cooper Sheridan

 

 

 

Dornenkrone

 

Ich bin heute wieder auf der Straße gegangen.

Denn ich habe nichts anderes zu tun.

 

Ich lasse die rauchenden Ruinen zurück

Der Vertriebenen und der Armen,

Ihr Leben ist den Elementen ausgeliefert

Und was auch immer auf sie zukommt.

 

Ich ging an einer Frau vorbei, die in einem Graben lag

Zwischen den Binsen und dem Stechginster.

Sie hatte drei kleine Kinder bei sich,

Ich warf einen kurzen Blick auf ihr Gesicht.

Sie fing meinen Blick auf und sagte

Nimm meine Kinder, nimm meine Kinder.

 

Ich bekreuzigte mich und ging weg.

Im Gehen sah ich ihr blasses, fahles Gesicht

und ihre eingefallenen Augen

Ich verfluchte mich und Irland, denn wir konnten ihr nicht helfen.

 

Ich hätte gern gewusst, wer sie war, und woher sie kam

Wie traurig war es für mich heute, diese Familie getroffen zu haben.

Der Frau wurden Mutterschaft und Mutter Natur genommen*

Aber sie und sie, wie ich, fielen der Krone zum Opfer.

 

Unser nächster Nachbar, so stark und unbarmherzig, lässt uns verhungern.

Eine Frau trägt eine Krone aus Juwelen, die andere eine Dornenkrone.

 

John Mulvihill – 2017

 

Deutsche Übersetzung: Sandra Böttcher mit freundlicher Unterstützung von Gabriele Haefs und Paul Quigley.

Ich sprach mit einem sehr guten irischen Freund, Paul Quigley, der vor 20 Jahren nach Deutschland kam und mit Familie in der Nähe von Hamburg lebt, über das Gedicht von John Mulvihill und im Wesentlichen die markierte Textzeile *. Paul, dreifacher Familienvater, hat sich Gedanken gemacht:

“Der Mutterschaft beraubt bedeutet für mich die Tatsache, dass die Frau körperlich nicht in der Lage ist, für ihre Kinder zu sorgen, in dem Sinne, dass die Tragödie der Hungersnot sie ihres Rechts beraubt hat, dieses tun zu können. Der ‘Weg der Mutter Natur’ ist eine Erweiterung davon in dem tieferen Sinn, dass es dem natürlichen Instinkt eines Menschen völlig zuwiderläuft, seine Kinder aufgeben zu wollen, um sie zu retten, und ist deshalb zutiefst schmerzhaft.  So wird ihr das Sorgerecht für ihre Kinder physisch entzogen und das Geschenk der Natur, eine Mutter und Versorgerin sein zu können.” 

 

Der Film zum Buch

Derzeit arbeitet Jerry an einem Film, basierend auf wahren Begebenheiten, der zu zwei Dritteln fertiggestellt ist. Die Handlung: Asenath Nicholson*, eine New Yorker Witwe, macht sich 1844 auf den Weg nach Irland, nicht ahnend, dass Irland an der Schwelle zur größten humanitären Katastrophe des 19. Jahrhunderts steht,  der Großen Hungersnot. Sie erkundet das Land und wird Zeugin extremer Schrecken. Sie erfährt, dass auch eine dunkle politische Unterströmung am Werk ist, die 1,5 Millionen Iren das Leben kosten und zwei Millionen zur Flucht zwingen wird. Ihre humanitäre Arbeit und ihre detaillierten Tagebücher machen sie zu einer unerwarteten Heldin.

 

Über Jerry Mulvihill

The Famine

Der Autor: Jerry Mulvihill

Jerry Mulvihill wuchs in Ballintcleave, County Kerry, Irland, auf. Sein erstes Buch Let’s Read a Story, eine Zusammenstellung von Kurzgeschichten für Kinder, erschien im Sommer 2011. Sein zweites Buch, ebenfalls für Kinder, The Wise Owl Storybook, wurde Ende 2012 veröffentlicht. The Puck Fair, sein drittes Buch, erschien im Juni 2014. Die Herausforderung seines Famine-Werkes bedeutete eine Abkehr von Kinderbüchern, erforderte eingehende historische Recherchen und entfachte eine große Leidenschaft für historisches Schreiben, die Jerry zu The Truth Behind The Irish Famine, seinem bisher größten Werk, führte.

Das Buch The Truth Behind The Irish Famine kann auf der Website des Autors (im Original englischsprachig) und in deutscher Übersetzung („Die Wahrheit hinter der Hungersnot in Irland, 2019), für 30 € zzgl. Versand bestellt werden:

www.jerrymulvihill.com

 

* Anmerkungen und Foto Credits:

Christine Kinealy ist eine irische Historikerin, Autorin und Gründungsdirektorin des irischen Great Hunger Institute an der Quinnipiac University. Sie ist eine Autorität in der irischen Geschichte. Kinealy lebt seit 2007 in den USA.

Asenath Hatch Nicholson (24. Februar 1792 – 15. Mai 1855) war eine amerikanische Veganerin, Sozialbeobachterin und Philanthropin. Sie schrieb aus erster Hand über den Großen Hunger in Irland in den 1840er Jahren. Sie beobachtete die Hungersnot, als sie Bibeln, Lebensmittel und Kleidung verteilte.

Alle Fotorechte: Jerry Mulvihill

Weitere Quellen: Wikipedia, Artikel Irish Times v. 19.03.2021