Die digitale Technik reicht uns die Instrumente des Überflusses, der Maßlosigkeit und der Zerstreuung: Einen gut geplanten und durchdachten Arbeitsprozess zerlegen wir heute in spontane Denk- und Nach-Denkprozesse aus 500 partikularen E-Mails. Einen Song, der zur gegenwärtigen Stimmung passt oder diese erst kreieren soll, wählen wir aus 25.000 MP3-Dateien aus. Dokumentarfilmer decken ihre Produktions-Kollegen im Filmschnitt mit atem-beraubenden digitalen Bergen von Material zu. Das Bild von Irland und dem Irland-Urlaub entsteht aus gewaltigen DVD-Präsentationen am heimischen Großbildschirm, mit 1000 Fotos. Dauerfotografen bringen es in einer Irlandurlaubswoche auf 1500 Fotos und mehr. 1500 Schnappschüsse, 1500 Versuche, ein gutes Bild zu entwerfen, 1500 Moment-Aufnahmen aus dem eigenen Leben, 1500 mal das Verlangen nach Schönheit, Erinnerung und Ewigkeit.

Der Wanderer hatte vor kurzem das Vergnügen mit einem Berufs-Fotografen auf Tour zu gehen. Irgendwann, nach dem 25. Foto fiel ihm auf, dass der Profi gerade ein einizges Mal abgedrückt hatte. Am Ende des ausgedehnten Spaziergangs stand es geschätzte 120 zu 8 – und von den acht Aufnahmen des Profis war jede ausdrucksstark genug, um es mit der Masse von 120 jederzeit aufzunehmen.

Qualität entsteht meistens nicht aus Überfluss sondern aus der Beschränkung, aus Knappheit und Resourcen-Schonung. Gefällige Zufalls-Kreationen bestätigen das Prinzip. Das geübte Auge des Foto-Handwerkers arbeitet mit Konzept und klarer Linie. Das Denken steht vor dem Abdrücken. Das Sehen sowieso. Was sehen wir, wenn wir fotografieren?

Foto: Rainer Schüle