Pause

Die Veränderung wagen.  Das erste Viertel des Jahres 2022 ist bereits gelebt. Haben Sie noch Erinnerungen an die guten Vorsätze für dieses Jahr, damals im Dezember und Januar, in den Wochen zwischen dem Hoffen auf eine neue Normalität und dem neuen großen Krieg in Europa? Wir machen weiter. Die Experimente der Reihe Mein Jahr des Aufhörens gehen in die nächste Runde.

In den vergangenen Wochen, gezwungen durch den russischen Überfall auf die Ukraine, habe ich viel über die hinter uns liegenden hedonistischen Jahrzehnte nachgedacht, in denen alles Konsumierbare, sei es materiell oder immateriell, jederzeit möglich und verfügbar erschien. Nun sind wir auf dem Weg zurück in eine bi- oder hinein in eine mutipolare Welt, die Globalisierung kommt zum Erliegen, wir werden wieder sorgfältiger wählen und entscheiden müssen. Die in den vergangenen Wochen ausgelösten Veränderungen werden wohl groß und dauerhaft sein.

Einerseits mögen wir nun zu Veränderungen und zum Aufhören von außen gezwungen werden, andererseits können wir wieder ein feineres Gespür dafür entwickeln, was richtig und was falsch ist und was deshalb zu tun ist. Wir können aufhören, uns weiter im “Eigentlich-müsste-man”-Stil durchzuwursteln, uns in symbolischem Aktionismus zu erschöpfen und das bequeme Wegsehen zu kultivieren. Ich habe für meine Forderung viel Kritik geerntet, den Menschen in der Ukraine vor allem anderen mit einem sofortigen vollständigen Energie-Embargo gegen den Aggressor Russland zur Seite zu stehen, weil das den Krieg verkürzen und viele Menschenleben retten würde. Ich halte daran fest: Solidarität, die dort endet, wo es uns selber weh tut, ist nicht viel wert. Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit, um mit einer (Energie-) Politik des ungebremsten Wachsens und Verschwendens zu brechen – anstatt immer nur darüber zu reden?

Die durch uns Menschen verursachte Zerstörung der Erde hat in vielerlei Hinsicht bedrohliche Formen angenommen. Wir aber sind die einzigen Lebewesen, die das Privileg haben, uns ändern zu können. Wir können mit dem Zerstören aufhören. Darin liegt unsere Hoffnung. Aufhören ist immer auch Neubeginn. Dem Aufhören voraus geht etwas Denkarbeit: Was will ich mit meinem Leben anfangen? Was ist mir wichtig? Was fördert uns und was schadet dem Leben auf der Erde? Wie wollen wir künftig leben? Dabei kann es helfen, das Leben vom Ende her zu denken: Wer möchte ich gewesen sein? Was soll einmal in meinem Nachruf stehen?

 

Für eine neue Kulturtechnik des Aufhörens

Aufhören ist eine Kulturtechnik des richtigen Lebens, schreibt der Soziologe Harald Welzer in seinem neuen Buch Nachruf auf mich selbst. Man kann auch sagen, dass von unserer Fähigkeit, das Aufhören zu lernen, unser Überleben auf der Erde abhängt. Im folgenden ein paar Zitate aus Harald Welzers lesenswertem Buch:

“Naturverhältnisse, die unser Leben und Überleben sichern, kommen an ihr Ende, aber unsere Kultur hat kein Konzept vom Aufhören. Verbissen optimiert sie das Falsche, anstatt es einfach sein zu lassen. Die Moderne lebt von der Illusion der Grenzenlosigkeit, aber durch das 21. Jahrhundert kommen wir nur, wenn wir das Leben und das Wirtschaften im Modus der Endlichkeit verstehen.”

“Unsere Kultur hat kein Konzept vom Aufhören. Deshalb baut sie Autobahnen und Flughäfen für Zukünfte, in denen es keine Autos und Flughäfen mehr geben wird. Und versucht, unsere Zukunftsprobleme durch Optimierung zu lösen, obwohl ein optimiertes Falsches immer noch falsch ist. Damit verbaut sie viele Möglichkeiten, das Leben durch Weglassen und Aufhören besser zu machen. Diese Kultur hat den Tod genauso zur Privatangelegenheit gemacht, wie sie die Begrenztheit der Erde verbissen ignoriert.”

“So wie es eine Verwechslung war, Natur als den Hintergrund für das universale Selfie des Homo sapiens zu betrachten,  so erweist sich die Idee, man könne eine Natur, die per Klimawandel und Artensterben tagtäglich rückmeldet, dass es mit der vollständigen Naturbeherrschung leider nichts ist, durch immer noch bessere Technologie schließlich doch noch in den Griff kriegen, als Illusion.”

“Wenn man sich vor Augen führt, wie im Jahr 2021 zwei Regierungen, in denen GRÜNE und Sozialdemokraten sitzen, nämlich Berlin und Brandenburg, das komplett anachronistische Projekt einer Autofabrik feiern, die von einem Milliardär aus der Digitalwirtschaft mit Hilfe von Milliarden Euro Steuergeldern in den märkischen Snd bzw. einen zuvor zu rodenden Wald gesetzt wird, kommen alle denkbaren Abstraktionen von den Springquellen des Reichtums von Elon Musk wie unter dem Brennglas zusammen – geradezu irre, wenn man sich überlegt, dass dieses in ökologischer, politischer und volkswirtschaftlicher Hinsicht völlig antiquierte und falsche Signale setzende Gigaprojekt nach einem halben Jahrhundert Umweltbewegung euphorisch begrüßt wird.”

 

Zwölf Merksätze zur Beantwortung der Frage: Wer will ich gewesen sein? 

:: Das Leben hat mich gewagt.
:: Der Raum der Veränderung ist innerhalb, nicht außerhalb unserer Grenzen.
:: Die Zeit der Veränderung ist die Gegenwart, nicht die Zukunft.
:: Ziele sind keine Handlungen.
:: Aufhören braucht einen Grund, aber aufhören zu können, braucht Können.
:: Aufhören sichert das Erreichte, weitermachen banalisiert es.
:: Mit Glaubenssätzen kommt man nicht weiter.
:: Mit Konjunktiven auch nicht.
:: Das Wort “eigentlich” ist zu vermeiden.
:: Die Bedeutung eines Lebens hängt nicht von seiner Dauer ab.
:: Der Schluss muss vor dem Ende gedacht werden.
:: Es git ein Leben vor dem Tod. Und nur da.”

 

“Ich möchte, dass in meinem Nachruf steht: Er hielt die richtigen Fragen für wichtiger als die falschen Antworten – und: Er war immer radikal, aber doch jederzeit bereit, inkonsequent zu sein.”

So viel von Harald Welzer. Doch nun zum Experiment im Monat April.

 

Aufhören im April: Irlandnews macht eine Pause

Mein Aufhör-Expriment im Monat April: Ich möchte bei Irlandnews einen Monat Pause machen. Das heißt: Irlandnews macht Pause. Im Monat April gibt es keine neuen Geschichten aus und über Irland. Ich werde statt dessen auf Reisen gehen und mir dieses und jenes überlegen. Irgendwann werde ich mit Irlandnews ganz aufhören. Irgendwann werde ich mit allem aufhören. Aber noch nicht jetzt. Wir melden uns im Mai an dieser Stelle zurück. Versprochen! (Ein Dank an die mitschreibenden Kolleginnen und Kollegen, dass sie in die Pause eingewilligt haben).

 

Einige laufende Langzeit-Experimente des Aufhörens

:: Wir wissen, dass Amazon den Einzelhandel und die Infrastruktur unserer Innenstädte zerstört. Wir preisen den lokalen Buchhändler und den Einzelhändler um die Ecke – und bestellen die Bücher und alles andere dann doch bei Amazon – weil es so herrlich bequem ist. “Eigentlich” aber wissen wir, dass wir nicht beim Internet-Monster kaufen sollen. Ich habe Ende Mai 2018 versucht, damit aufzuhören – und feiere nun bald vier Jahre Amazon-Abstinenz. Es geht, es geht gut – und ja, es kostet da und dort etwas mehr Mühe und etwas mehr Geld.

:: Auch die anderen großen Internet-Plattformen, wie Airbnb und Booking.com bekommen nichts von uns. Jegliche Werbung inklusive Präsenz auf Facebook und Google haben wir vor drei Jahren eingestellt – und seitdem nicht wieder begonnen, Don´t feed the monsters!

:: Wir wissen, dass exzessives Fliegen dem Klima und dem Planeten nicht gut tut. Der letzte private Flug liegt nun vier Jahre, der letzte geschäftliche dreieinhalb zurück. Dies kann keine Wiedergutmachung für zahlreiche Flugreisen in früheren Jahren sein, aber es ist der Versuch, jetzt das zu tun, was ich für richtig halte. Jetzt reise ich nach eineinhalb Jahren mal wieder mit Auto und Fähre in die alte Heimat Deutschland.

Diese Experimente des Aufhörens sind nicht etwa lästige Selbstzüchtigungen. Sie machen Spaß, geben Energie und die Gewissheit, dass wir etwas verändern können. Vor allem aber ist die Praxis des Aufhörens politisch. Wir erkennen an, dass wir unserem Verhalten in einer begrenzten Lebenswelt Grenzen setzen müssen – und wenn wir danach handeln, sind wir glaubwürdig, kongruent, selbstmächtig und mit uns im Reinen.

 


Mein Jahr des Aufhörens: Alle Beiträge zum Thema gibt es gesammelt hier.


 

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Mein Jahr des Aufhörens:  Die einzelnen Experimente beginnen am  Monatsanfang und werden immer bis zu einem Monat dauern, müssen sie aber nicht. Ich werde jeweils schauen, wie weit mich das Experiment trägt. Wer will, kann mit machen: Ein Monat ohne Fleisch, ein Monat ohne Milch, ein Monat ohne Zucker, ein Monat ohne Veruteilung anderer Menschen, . . . das könnten Eure eigenen Experimente sein.

Welche Ideen habt Ihr? Macht mit und schreibt hier über Eure Erfahrungen. Jeder Neuanfang ist immer auch ein Aufhören: Wer nun zum Beispiel jede Woche drei mal fünf Kilometer läuft, hat seine Karriere auf der Couch beendet. Ihr könnt in den Kommentaren weiter unten schreiben oder mir eine Mail an markus@irlandnews schicken. Ich freue mich drauf und antworte gerne.

 

 

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Meine Inspirationen

Der fällige Paradigmenwechsel in unserem Verhalten (zum Beispiel vom Ja- in den Nein-Modus zu schalten) beschäftigt mich seit Jahren. Nun hat der geschätzte Soziologe Harald Welzer ein inspirierendes Buch zum Thema geschrieben. Er plädiert für eine neue Kulturtechnik des Aufhörens als einem Weg in eine neue Zeit. (Harald Welzer: Nachruf auf mich selbst. 2021, erhältlich hier beim sozialen Online-Buchändler Buch7).

Christian Leppert, ein stets inspirierender Gesprächspartner im Schwarzwald, hat mich vor Jahren darauf gebracht, die Veränderungen mehr spielerisch anzugehen. Vor einigen Jahren machte Christian ein Immobilitäts-Experiment. 15 Monate lang verließ er seinen Wohn- und Arbeitsort nicht (mit Ausnahme eines täglichen Spaziergangs auf den Hausberg Belchen), um zu erfahren, was das mit ihm anstellt und was es für die Gesellschaft bedeuten könnte.. Christian begreift seine Veränderungsprozesse immer als Experimente und nimmt ihnen damit den Geruch des Dringlichen und des Dogmatischen.

In Irlands Bergen habe ich von 2012 bis 2019 mit zahlreichen Menschen und Gruppen die Veränderung geübt. Wir lebten wochenweise in einem abgelegenen alten Cottage mitten in der Natur, ohne Strom, ohne Uhr und ohne Internet. Wir versuchten heraus zu finden, was wir für ein erfülltes und zufriedenes Leben benötigen, und wir haben dabei vielerlei Veränderungen versucht: Wir haben geübt, tief zuzuhören und zu schweigen statt zu meinen und zu urteilen. Wir haben geübt, Gespräche mit Inhalt zu führen und wir haben heraus gefunden, was wir alles nicht benötigen, um happy zu sein.  Über diese wertvollen Erfahrungen werde ich gelegentlich hier berichten.

Fasten kann man alleine, in Gruppen und neuerdings in virtuellen Gemeinschaften. Der Humanmediziner Rüdiger Dahlke hat maßgeblich zu einer Renaissance des Fastens beigetragen. Seine Online-Fastenbegleitung fand ich inspirierend und hilfreich.