Wintersonnenwende

Newgrange – sagenumwobener Ort in Irlands Osten

Heute ist Wintersonnenwende. Heute, am 21. Dezember, erleben wir den kürzesten Tag des Jahres. Jetzt steht die Sonne auf der Nordhalbkugel der Erde am tiefsten. Die Zeit zwischen Sonnenaufgang (8:43 Uhr) und Sonnenuntergang (16:30 Uhr) misst hier am Atlantik in Irland weniger als acht Stunden. Der genaue Zeitpunkt der Sonnenwende auf der Insel: heute nacht um 21:48 Uhr, gefolgt von der längsten Nacht des Jahres.  Jetzt geht die Sonne am Südpol nicht unter, während sie am Nordpol gar nicht aufgeht. Manche nennen diesen Tag Mittwinter, andere den ersten Tag des Winters. Kalendarisch markiert der 21. Dezember, wenn die Sonne über dem Südlichen Wendekreis im Zenit steht, den Winteranfang auf der Nordhalbkugel.

Irlands Natur- und Kultur-Interessierte schauen zur Winter Solstice natürlich wieder nach Newgrange im County Meath, und die bewegende Frage lautet: Wird die aufgehende Sonne durch den Lichtschacht am Eingang des berühmten Hügelgrabs scheinen und die Kammer am Ende eines 19 Meter langen Ganges erhellen?

Die Chancen stehen nicht sehr gut, dass die Sonne sich zeigt. Es wird ein fahler, windiger Morgen mit Temperaturen um 5 Grad plus. Fest steht allerdings, dass RTÉ den Sonnenaufgang an der wichtigsten archäologischen Stätte Irlands in County Meath in diesem Jahr nicht live im Internet  überträgt. Merkwürdige Begründung des irischen TV-Senders: Die Pandemie sei ja vorbei. Dabei hatte RTÉ das Natur-Kultur-Spektakel schon viele Jahre vor der Pandemanie regelmäßig übertragen. Immerhin dürfen nach zwei Jahren Auszeit erstmals wieder ein paar Dutzend Losgewinner im Inneren des Grabs auf das Sonnenlicht warten.

Erhellendes zu Newgrange und frische Thesen für den Dauer-Disput um Irlands berühmtestes frühgeschichtliches Monument lieferte die Irish Times im Jahr 2016. Sie zitierte den früheren Staats-Archäologen Michael Gibbons mit Zweifeln an der historischen Darstellung von Newgrange und mit neuerlicher Kritik an der Rekonstruktion der Fundstätte durch Professor Michael O’Kelly in den 60er Jahren. Gibbons behauptet: Das Sonnen-Einfang-Spektakel am Morgen der Wintersonnenwende ist fünfeinhalb jahrzehnte alt – und keine 5000.  Der Lichtschacht über dem Eingang sei zusammen mit dem Eingang und der bizarren Quarzsteinmauer lediglich eine Interpretation von Professor O’Kelly. Die Menschen der Jungsteinzeit vor 5000 Jahren seien nicht in der Lage gewesen, eine solche Anlage zu bauen, schrieb der Archäologe Gibbons in einem Fachaufsatz, und legt Indizien dafür vor, dass Newgrange weniger eine jungsteinzeitliche als vielmehr eine Anlage aus der Eisenzeit, und damit wesentlich jünger sei.

 

Newgrange. In der Kammer

 

Michael Gibbons betonte vor allem: “Der Lichtschacht über dem Eingang ist nicht authentisch, er wurde während der Rekonstruktion in den 60-er Jahren fabriziert.” So nimmt die Diskussion um Irlands “bedeutendstes jungsteinzeitliches Monument”, das gerne als “älter als die Pyramiden” gefeiert wird, wieder Fahrt auf: Denn Gibbons ist kein Unbekannter. Er arbeitete lange in Staatsdiensten und war Co-Direktor des für die Monumente zuständigen Office of Public Works (OPW) und weiß deshalb als Insider, wovon er spricht. Schon seit Jahrzehnten wird kritisiert, dass bei den Arbeiten an Newgrange in den 60er- Jahren nicht die archäologisch möglichst korrekte Rekonstruktion im Vordergrund gestanden habe, sondern die Interpretation damaliger Projektionen. Das Team von Professor Kelly hatte eine Vorstellung von Newgrange und setzte diese mit modernen technischen Mitteln um: Benutzt wurden Stahl und Beton, um ein Bild von Newgrange, wie wir es heute kennen, in Szene zu setzen. Führende Archäologen bezweifeln jedoch, dass der Eingang und die Quarzsteinmauer jemals existiert haben.

5000 Jahre oder doch nur fünfeinhalb Jahrzehnte alt?

Das alles stört die Besucher von Newgrange freilich wenig. Dass wichtige Elemente des berühmtesten irischen Monuments jünger als das Original-Disneyland in Los Angeles sein könnten (aus dem Jahr 1955), erwiderten Besucher des Winder-Sonnenwende-Events am 21. Dezember gegenüber der Irish Times mit einem mehr oder weniger ausführlichen na und . . .  Newgrange ist mehr denn je ein Besucher-Magnet ersten Ranges, die Führungen im Boyne Valley sind oft lange im voraus ausverkauft –  erst recht, seit die Kampagne Ireland´s Ancient East massiv um Besucher wirbt. Sie tut dies unverdrossen mit der Behauptung: “Älter als Ägyptens Pyramiden”.

Zusätzlich erhellend wirkt in diesem Sinne das Wissen um die treibende Kraft hinter den neuzeitlichen “Renovierungsarbeiten” in Newgrange: Die Initiative ging von der staatlichen Tourismusbehörde Bord Fáilte Éirean aus. Völlig zu recht erhofften sich die Tourimus-Vermarkter in den 60-er Jahren einen erheblichen Besucher-Boom durch eine “visuelle Aufwertung” von Newgrange. Da störte später wenig, dass die Bearbeitung der berühmten Grabanlage am Fluss Boyne in Fachkreisen traurige Bedeutung als eine der weltweit schlechtesten archäologischen Rekonstruktionen erlangt hat. Dieses Negativ-Prädikat teilt die irische Ostküsten-Ikone übrigens mit der berühmten steinernen Schwester im Westen des Landes: der Klosterinsel Skellig Michael, im Atlantik vor der Küste Kerrys. Auch dort hat die Phantasie der Restauratoren das archäologische Fachinteresse vernichtend ausgestochen und eine ganz eigene Realität aus Altem und Neuem geschaffen. Dass dies zumindest im kommerziellen Sinne bestens funktioniert, erkennt jeder, der sich am Skellig Ring um ein Ticket für Skellig Michael bemüht.

Die gute Nachricht des Tages: Ab heute geht es bergauf, lichtwärts. Die Tage werden wieder länger.

Fotos: Tourism Ireland