“Die wir Fremde geworden sind auf diesem Planeten.
Fremd der Natur, dem Sein, dem Lebendigen.
Fremde uns selbst.”
Joachim-Ernst Berendt

 

Wann begann unser Leben aus dem Ruder zu laufen, habe ich mich oft gefragt? Recherchen hatten mich in den letzten Monaten zurück geführt in vergangene Jahrzehnte. Ich verfolgte die Lebenswege einiger Männer, die mich geprägt haben und die mir vor langer Zeit schon Wichtiges zu sagen hatten: Horst Stern, Jörg Zink, John O’Donohue, Joachim-Ernst Berendt. Ich wunderte mich irgendwann über meine Rückwärtsgewandtheit, über den nunmehr eklatanten Mangel an Zukunftsbegeisterung, über meine Bezogenheit auf die Vergangenheit. Gleichzeitig wurde mir klar, wie lange schon wir es wissen: Dass wir den falschen Weg eingeschlagen haben, dass wir umkehren, wenigstens die Richtung ändern müssen.

Wir haben es seit den 70er Jahren gewusst, zumindest wissen können. Wir haben nichts Entscheidendes getan, nichts und uns nicht geändert. Nun stehen wir vor den Trümmern unserer Bequemlichkeit. Der streitbare Dokumentarfilmer und Journalist Horst Stern öffnete uns in den 70er Jahren die Augen, wie es um die von uns Menschen geschundene Natur steht. Als alter Mann sagte Stern über den Erfolg einer Arbeit:

“Ich habe eigentlich immer nur in den Köpfen und Herzen der Ohnmächtigen etwas bewirkt, in den Köpfen der Mächtigen so gut wie garnichts”.

Horst Stern war ein mutiger Mann, er war klug, er war mit der Natur verbunden, er hatte ein enormes Wissen, er war seiner Zeit und seinen Mitmenschen weit voraus – und deshalb war er zu seiner Zeit oft unverstanden und einsam. Es ist erschütternd, heute 50 Jahre alte Beiträge von Horst Stern anzusehen und erkennen zu müssen, dass wir durch Menschen wie ihn schon vor einem halben Jahrhundert genau Bescheid wussten.

Der Theologe Jörg Zink schrieb mit der Polemik “Die letzten sieben Tage der Schöpfung” im Jahr 1970 einen prophetischen Abgesang auf das Leben auf der Erde. Er publizierte ihn übrigens, weil er Hoffnung hatte und aufrütteln wollte:

“Am siebten Tage war Ruhe. Endlich. Die Erde war wüst und leer, und es war finster über den Rissen und Spalten, die in der trockenen Erdrinde aufgesprungen waren. Und der Geist des Menschen irrlichterte als Totengespenst über dem Chaos. Tief unten in der Hölle aber erzählte man sich die spannende Geschichte von dem Menschen, der seine Zukunft in die Hand nahm, und das Gelächter dröhnte hinauf bis zu den Chören der Engel.”

 

 

Der Musik-Journalist Joachim-Ernst Berendt machte die Deutschen mit dem Jazz bekannt, bevor er sich spirituellen und ökologischen Themen widmete. Er hinterließ uns Zeilen, die heute aktuell sind wie in den 90er Jahren. Angesichts der vermeintlichen moralischen Überlegenheit der Gutmeinenden, auch angesichts der schneidigen Töne und der schrillen Forderungen nach schweren Waffen für die Ukraine aus deutschen Zeitungs-Redaktionen und aus den Mündern von ehemals grünen Friedensbewegten, wirken Berendts demütige Worte heute schmerzlindernd und wohltuend:

“Jeder Krieg in der Welt, auch der entfernteste, ist mein Krieg.
Krieg ist in der Welt, weil Krieg in mir ist.
. . .

Die wir Fremde geworden sind auf diesem Planeten.
Fremd der Natur, dem Sein, dem Lebendigen.
Fremde uns selbst.

Die eine, allein wirksame Weise, den Krieg zu beenden heißt,
ihn beenden, in Dir – in mir.”

 

John´s Naked Ladies

 

Übermaß überall. Der Ex-Priester, Poet und Autor John O’Donohue schrieb in den 90er-Jahren gegen die seelischen Verhehrungen von Turbo-Kapitalismus und Hyper-Konsum, von Massen-Tourismus und Machbarkeitswahn an. Er kämpfte für die Rettung heiliger Landschaften vor der finalen Ausbeutung durch die Freizeitindustrie:

„Eines der Dinge, die mich wirklich erschreckten und einer der Gründe, warum ich mich in der Gruppe engagierte: Ich hatte das Gefühl, dass der Westen Irlands nun zum Verkauf stand. Er könnte in einen Spielplatz für übersatte Europäer verwandelt werden. Sie würden am Freitagabend aus Deutschland oder sonstwoher einfliegen und am Montagmorgen wieder in ihren Büros sein. Wenn sich diese Art von Tourismus entwickelt, werden die Einheimischen ihre Selbstachtung einbüßen. Wir werden alle zu Objekten. Die Touristen werden uns anschauen und sagen: „Seht her, einige dieser Art sind noch nicht ausgerottet.“

Dass der Massentourismus den Mullaghmore, den heiligen Berg des Burren stürmen würde, konnten John O’Donohue und seine Mitstreiter vor drei Jahrzehnten noch verhindern. Dass Irland nun dem Massentourismus komplett ausgeliefert wird,  dass die gesamte Westküste zu einem Aufmarschgebiet für einen nicht enden wollenden Auto-Corso von Freizeit-Vergnügten degradiert würde, das verhindert heute niemand mehr.

Wir wissen es seit Jahrzehnten. Wir haben nichts und auch uns nicht geändert.

* * *

Vor kurzem fuhr ich nach eineinhalb Jahren wieder einmal durch Mitteleuropa. Durch Frankreich, Deutschland, die Schweiz. Was ich sah, hat mich nicht ermutigt. Es gibt kein Halten, die Zerstörung der natürlichen Welt nimmt ungehindert ihren Lauf. Ich fuhr durch kaputte Landschaften, ich sah Kloaken von Flüssen und Seen, tote entfunktionalisierte Dörfer, öde Affenfelsen aus ungezählten Industrie- und Wohngebieten, ich wanderte durch den fast überall sterbenden Wald.

Es gibt kein Halten. Vor zweieinhalb Jahren hatte ich nach einem meiner letzten Besuche den ungezügelten Landschaftsverbrauch in meiner alten Heimat beschrieben. Der flächenfressende Moloch Wachstum lässt sich nicht bremsen, die Zerstörung ging seitdem ungebrochen weiter. Land verschwindet, Boden verschwindet, Wasserläufe, Tiere und Pflanzen verschwinden unter Asphalt und Beton. Und nun haben sich die ehemaligen Naturschützer von den Grünen in Regierungsverantwortung daran gemacht, im Namen der Klimarettung den Rest der natürlichen Welt mit ihrem sogenannten grünen Wachstums-Deal zu zerstören. Zumindest sie haben sich geändert, wenn auch nicht zielführend.

Wir wissen es seit einem halben Jahrhundert. Nun eskalieren die Probleme, die Alarmglocken schrillen für alle neun planetaren Belastungsgrenzen unserer Erde. Wir verstehen immerhin langsam, dass dieser Klimawandel, das Artensterben, die Bodendegradation, das Sterben der Wälder, der Wassermangel, die zunehmende Hitze, dass die Zerstörung der natürlichen Welt nicht erst das Problem für unsere Kinder und Enkel sein wird. Er betrifft auch uns, jetzt, wahrscheinlich in diesem Sommer; uns, die Generation, die zusammen mit ihrer Elterngeneration für den Niedergang verantwortlich ist.

Der Satz: “Für mich wird es noch reichen”, wird sich wohl als Irrtum erweisen. Wir werden wohl leiden unter Hitze, Trockenheit, Wasserknappheit, Lebensmittelengpässen, unter dem Zusammenbruch des Lebens, wie wir es kennen. Und während sich andere Gesellschaften darauf vorbereiten, wie die “Krone der Schöpfung” mit dem Kollaps unserer Lebenssysteme umgehen kann, wie wir trotz aller Widrigkeiten überleben können, streitet man sich in Deutschland noch über die völlig illusionäre Einhaltung eines 1,5- bis 2 Grad-Erwärmungskorridors.

* * *

Es gibt immer etwas Wichtigeres zu verhandeln als das gebrochene Verhältnis von Mensch und Natur. Über allem thront seit Dekaden die Vermehrung und Sicherung unseres materiellen Wohlstands und unserer Privilegien (“garantierte drei Urlaubsreisen im Jahr”). Zuletzt hat die globale Corona-Kampagne unser aller Aufmerksamkeit zwei Jahre lang gekidnappt. Davor der globale Terrorismus, der mit 9/11 begann. Jetzt starren wir unentwegt auf die Ukraine, auf den menschenverachtenden Kreml-Imperialisten, auf seine animalischen Vollstrecker und auf unsere Angst vor einem dritten Weltkrieg. Die Leitmedien nehmen unsere Aufmerksamkeit einmal mehr in Geiselhaft – wenn wir es zulassen.

Wir sollten ehrlich mit uns sein: Das Spiel ist aus. Die meisten von uns hier im fett-wohlhabenden Westeuropa sind ökologisch betrachtet Teil des Problems – und wir halten uns hartnäckig für einen Teil der Lösung. Oder wir sind gleichgültig. Oder zynisch. Oder alles zusammen. Fest steht: Wir wissen es seit Jahrzehnten. Wir haben nichts und auch uns nicht geändert. Alle Appelle, Kampagnen, Weckrufe, alle Dokumentationen, Kongresse und Memoranden haben nichts geholfen. Die Aufklärung läuft ins Leere. Die klügste Spezies auf diesem Planeten kann sich nicht einordnen, sich nicht begrenzen, sich nicht korrigieren. Da helfen auch Jammern und Klagen und ständiges Wiederholen der seit Jahrzehnten bekannten Standpunkte nicht weiter. Deshalb soll auch an dieser Stelle damit Schluss sein.

 

Horst Stern in Irland

 

Wie aber umgehen mit der ausweglosen Situation? Der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen hat im Essay Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen? diesen Vorschlag gemacht:

“Und dann ist da noch die Sache mit  der Hoffnung. Wenn die eigene Hoffnung auf die Zukunft von einem maßlos optimistischen Szenario abhängt, was tun wir dann in zehn Jahren, wenn dieses Szenario sogar in der Theorie in sich zusammenfällt? Den Planeten gänzlich aufgeben? In Anlehnung an den Rat von Finanzplanern würde ich ein ausbalanciertes Portfolio empfehlen, mit  wenigen langfristigen und vielen kurz- bis mittelfristigen Hoffnungen. Gegen die menschliche Natur anzukämpfen, weil man so die schlimmstmögliche Entwicklung zu entschärfen hofft, ist richtig und gut, aber genauso wichtig finde ich es, kleinere, lokalere Schlachten zu schlagen, die sich tatsächlich gewinnen lassen.

Tun wir weiterhin das Richtige für den Planeten, ja, aber versuchen wir auch zu retten, was uns besonders am Herzen liegt – eine Gemeinschaft, eine Institution, ein Stück Natur, eine bedrohte Tierart, die in Schwierigkeiten steckt – und schöpfen wir Kraft aus unseren  kleinen Erfolgen. Alles, was wir jetzt an Gutem tun, ist wohl eine Absicherung gegen die heißere Zukunft, aber die wirklich Bedeutsame daran scheint mir, dass es heute gut ist. Solange wir etwas haben, das wir lieben, haben wir auch etwas, worauf wir hoffen können.

In Santa Cruz, wo ich wohne, gibt es eine Initiative für Obdachlose, das Homeless Garden Project. Auf einem kleinen Bauernhof am westlichen Stadtrand bietet es der der obdachlosen Bevölkerung Arbeit, Ausbildung, Unterstützung und ein Gemeinschaftsgefühl. Es kann das Problem der Obdachlosigkeit zwar nicht “lösen”, aber es verändert seit fast dreißig Jahren Leben, eines nach dem anderen. Indem es sich durch den Verkauf von Bioprodukten zum Teil selbst finanziert, trägt es im weiteren Sinne dazu bei, unser Denken – unsere Einstellung zu Menschen in Not, zu dem Ackerland, von dessen Erträgen wir abhängig sind, zu der Natur, die uns umgibt – von Grund auf zu verändern. Als Mitglied dieser “Solidarischen Landwirtschaft” genieße ich dort im Sommer den Grünkohl und die Erdbeeren, und da der Boden vital und unverseucht ist, finden im Herbst kleine Zugvögel Nahrung in seinen Furchen.

Schneller, als wir alle glauben möchten, könnte eine Zeit kommen, da die Systeme der industriellen Landwirtschaft und des Welthandels zusammenbrechen und es mehr Menschen ohne als mit Dach über dem Kopf geben wird. Dann werden Begriffe wie “ökologische regionale Landwirtschaft” und “starke Gemeinschaften” keine hohlen Schlagwörter mehr sein. Freundlichkeit gegenüber dem Nächsten und Achtsamkeit gegenüber der Umwelt – Förderung gesunder Böden, ein vernünftiger Umgang mit Wasser, Schutz von Bienen und anderen Bestäuberinsekten – werden in einer Krise und in jeder Gesellschaft, die sie übersteht, wesentliche Bedeutung erlangen. Eine Initiative wie der Obdachlosengarten gibt mir die Hoffnung, dass die Zukunft, selbst wenn sie zweifellos schlechter sein wird als die Gegenwart, in mancher Hinsicht auch besser sein könnte. Vor allem aber gibt sie mir die Hoffnung für heute.”

 

Ich selber begreife meine heutige Verfassung als eine Art hoffnungsvoller Resignation. Die schöne große Zukunftsidee gibt es nicht mehr, dafür die geliebten kleinen Projekte und Schutzzonen. Das Fremdsein müssen wir im Kleinen überwinden. An unserem Ort. Und ich habe Hoffnung. Denn die Hoffnung gründet sich nicht wie der Optimismus auf die Aussicht auf einen guten Ausgang – und sie ist die Freundin der Resilienz. Bereiten wir uns vor.

 

Bollingen Tower

Fotos: Markus Bäuchle; von oben: Bellevue in Douglas; some Sea Arches;  John´s Naked Lillies: eine Kamelie in Horst Sterns irischem Garten; Telesphorus, God of convalescence and healing, am Obersee