Wohnmobil in Irland

 

Das Wohnmobil, der Campervan, ist das angesagte Ferienvehikel der Gegenwart. Es verspricht Sicherheit in unsicheren Zeiten. Seine Größe ist ein plastifiziertes Sinnbild für die monströse Maximierung unserer Bedürfnisse. Mehr Wohnmobile denn je rollen in diesem Sommer über Irlands Straßen – und verstopfen diese in ihrer ungelenken Art. Zeit also für die Betrachtung eines XXL-Phänomens.

Eigentlich sind Iren meist freundliche und duldsame Menschen, die so leicht nichts aus der Ruhe bringt und die ihre sozialen Kontakte gerne nach dem Motto „Leben und Leben lassen“ pflegen. Eigentlich. Was hat dem Mann dort vorne im Bauern-Toyota die Laune so gründlich verdorben, dass er wild schimpfend hinter der Windschutzscheibe herum fuchtelt? Es sind zwei fette Wohnmobile deutscher Herkunft, die sich durch das enge Sträßchen auf der Kilcatherine Halbinsel im County Cork schieben und jeden entgegenkommenden Autofahrer zu einem minutenlangen Ausweichmanöver zwingen.

Als wir nach mehreren Minuten eng am Straßengraben auch am Farmer vorbei fahren, ruft er das irische Äquivalent von „verda . . .  Schei . . . .“ und  „Wild Atlantic Way“ und es wird klar: Das Vermarktungskonzept rund um den „Wild Atlantic Way“ ist schrecklich erfolgreich. Die Werbekampagne für „eine der längsten Küstenstraßen der Welt“ entlang Irlands Westküste zieht eine ganz besondere Spezies Urlauber mächtig an: den Wohnmobil-Piloten und seine Frau.

Wir leben an einer der irischen Lieblingsstrecken der Womo-Fahrer, zwischen Kinsale und Killarney. Die sieben, acht und mehr Meter langen Lustkraftwagen der Freizeitgesellschaft begegnen uns in der Ferien-Saison tagtäglich – und während in einem ähnlich großen Bus 16 bis 24 Menschen Platz nehmen, rollen in den XXL-Wannen zumeist einsame ältere Ehepaare der Zielgruppe 55+ ihr Zweit-Wohnzimmer durch die Landschaft. Tendenz stark steigend, denn die Hotelzimmer in Irland sind in diesem Jahr der Flüchtlingskrise ein rares Gut, und das gute alte B&B stirbt langsam aus (Einen Beitrag zu dieser Entwicklung gibt es hier).

Die Marketingleute von Tourism Ireland sehnen sich zwar mehr Womo-Familien herbei und glauben seit den Zeiten von Corona einen demographischen Wandel hin zu Sicherheits-bewussten Eltern mit Kindern erkennen zu können. Genaue Zahlen allerdings gibt es nicht. Dafür ist das Segment der Wohnmobilisten – auch wenn sie viel Aufmerksamkeit und Raum für sich beanspruchen – noch zu unbedeutend. Weniger als zwei Prozent der Besucher aus dem europäischen Ausland fahren Kühlschrank, Klo und Bett am Atlantik spazieren oder wohnen im Zelt. Doch der Trend geht eindeutig zur Wohnwanne.

 

Wohnmobile in Irland

Der freiheitsliebende Womo-Fahrer: Ein egomaner Freiheitsräuber?

Unterwegs in unserer Wahlheimat, auf der Beara Peninsula. Gerade standen zwei fast identische Zwillings-Blechwannen mit den Ausmaßen 8,0 mal 2,3 mal 2,8 Meter am Aussichtspunkt. Sie ließen meinen VW-Bus, der neun Menschen transportiert, neben sich schmächtig wie einen Fiat 500 aussehen. Sie blockierten den Halteplatz und den Blick übers geliebte Wasser hinüber nach Kerry für alle nachfolgenden Fahrer. Einige Minuten davor — das Highlight der Woche — begegneten wir bei Eyeries einem unüberwindbaren Corso von zehn (!) rollenden gallischen Wohnzimmern. Bien sur, auch der Franzose reist gerne frei, sicher, individuell und dabei gesellig.

Der Wohnmobil-Pilot: Mein guter Freund Baumgartner nennt ihn „das Herrchen des blechernen Alphatiers der touristischen Biosphäre“. Er genießt seine grenzenlose Freiheit, indem er seinen vertrauten Kokon, einer Raupe gleich, nicht verlässt; indem er den halben Hausstand mit sich führt, in seiner rollenden Hülle wohnt, kocht, isst, trinkt, feiert, abführt, streitet, Sex hat, schläft — und sich bei all dem so herrlich frei fühlt. Und sicher und geborgen.

Es ist die Freiheit, die der Womo-Lenker meint. Die Freiheit zum raumgreifenden Komfort — die allerdings nicht dort endet, wo die Freiheit der Anderen beginnt. Den berühmten Satz von Immanuel Kant mag der zornige Farmer von der Beara Peninsula vielleicht nicht kennen, seinen Gehalt aber versteht er sehr wohl: Hier auf den engen, oft rumpeligen Sträßchen West Corks machen sich Urlauber raumgreifend auf Kosten Einheimischer und anderer Urlauber allzu breit. Wer nicht im „Campervan“ oder im „Motorhome“ (wie man hier sagt) sitzt, sondern in einem Auto dahinter oder davor, murmelt schon einmal das Wort von der „Freiheitsberaubung.“

Wohnmobil-Urlauber, so meint Baumgartner, seien oft egomane, meist egoistische und fast immer enorm sicherheitsbedürftige Zeitgenossen. Baumgartner ist bekennender Wohnmobil-Hasser, und er kann sich über die „Schnecken der Landstraße“ bis zur Hymer-Ventilation in Rage reden: „Sie geben dem besuchten Land nichts oder nicht viel, da sie ja fast alles Notwendige mit sich führen. Allenfalls ihren Müll und den Latrinen-Inhalt müssen sie dann und wann los werden. Sie beanspruchen über 30 Kubikmeter Raum für sich, meist 15 pro Person, und bis zu 80 Prozent der Straße.“

Baumgartner glaubt, im Wohnmobil-Piloten den legitimen Nachfolger des Jägerzaun- und Gartenzwerg-verliebten Sommer-Campers von Lido di Jesolo zu erkennen. Aber das ist nur Baumgartners miesepetrige Meinung; für ihn ist das Glas generell immer halb leer. Ich selber betrachte die Wohnmobilisten, und darunter ganz besonders die aus der alten Heimat, mit freundlicher Neugier. Die Deutschen sind ja bekanntlich nicht nur so etwas wie Vize-Weltmeister im Reisen, sondern auch Champions im Wohnen. Keine andere Nation wohnt so gerne und so hingebungsvoll wie wir Deutschen. Unser Wohndrang reicht bis weit in die Zweitküchen in den Wohngärten der Eigenheime hinein. Schon unser Philosoph Martin Heidegger sagte, das Wohnen sei der Grundzustand des Seins.

Die Engländer oder die Amerikaner leben in ihren Häusern und Apartments, die Deutschen wohnen. Weil sie auch noch gerne reisen, ist es nur folgerichtig, dass sie um den Ehrentitel der Europameister im reisenden Wohnen ganz vorne mit fahren. Unterwegs daheim, sicher, geschützt vor den Zumutungen der Fremde und der Fremden, geborgen in der eigenen, so vertraut nach dem bevorzugten Weichspüler duftende Bettwäsche. Gewohnte Zufriedenheit in den eigenen vier Wänden und gesegnet mit allen Annehmlichkeiten des gelingenden Alltags – selbst in den Ferien und 2000 Kilometer von zuhause entfernt. So geht Auszeit im perfekten, gebärmuttergleichen Kokon.

 

Dinosaurier der Mobilität, traurige Symbole des Untergangs?

Baumgartner spottet, dass die Wohnmobile die Dinosaurier der Mobilität seien, traurige Symbole der untergehenden Epoche des kollektiven Konsumwahns, ja, die Menetekel vom Ende der Ära des Wachstums, der Schneller-Größer-Besser-und-Alles Sofort-Jahrzehnte; Klimaschädlinge obendrein, schlimmer noch als die viel gescholtenen SUVs – und überhaupt: eine Marotte der Wohlhabenden. Welcher Durchschnittsverdiener könne schon 50- oder gar 100.000 Euro für ein Zweit- oder Drittgefährt hinblättern, das nur wenige Wochen im Jahr benutzt wird.

Wenn mein guter Freund derart in Fahrt gerät, wende ich ein, dass sich viele Menschen, und gerade die, die viel zu verlieren haben, eben vor einer zunehmend bedrohlichen Welt abschotten müssen. Sollen die nun immerfort daheim bleiben, nur weil sie sich etwas leisten können oder weil sie ängstlich sind?

Immerhin sind die mobilen Wohnzimmer ideale Filterblasen mit Abstandsgarantie, um sich nicht zu viel von der fremden Umgebung zumuten zu müssen. Zudem schützen diese dünnen Wände, wenn auch nicht vor Unfällen, so doch vor Aerosolen – geschwängerter Luft und hustenden Fremden. Das Womo, halte ich meinem Freund entgegen, ist das Mobil der Zukunft, denn die nächste Pandemie kommt bestimmt: Social Distancing auf Rädern, Abstand in Vollendung. Richtig geplant kann man sich den Nachschub strategisch pünktlich zu Packstationen schicken lassen und muss keinem Einheimischen mehr in die Atem-Aura treten.

Auf den engen und engsten Sträßchen an Irlands malerischer Atlantikküste haben die wilden Zeiten so um das Jahr 2015 begonnen. Viele dieser asphaltierten Feldwege, die Superlativ-hungrige Irland-Vermarkter zur „2500 Kilometer langen Küstenstraße“ aufaddiert und hoch gejazzt haben, sind nicht einmal für einen regelmäßigen Gegenverkehr mit beteiligten Kleinwagen geeignet, geschweige denn für die Raum konsumierenden Ferien-Trucks. Vielerorts sind deshalb, wie in unserem Dorf Glengarriff, wenig freundliche Schilder aufgetaucht, mit denen sich genervte Anwohner die invasiven Freizeitlaster vom Leib halten wollen: „No Campervans“. „No overnight parking“. Doch wen kümmert´s im fernen Dublin? Nun, immerhin ein bisschen was tut sich: An einigen besonders kleinen Straßen und engen Sackgassen wie dem Sheeps Head Drive stehen seit vergangenem Jahr Verbotsschilder, die den Womo-Piloten von der letzten Meile zur Kapspitze abhalten sollen.

In Dublin jedenfalls lachen sich die verantwortlichen Tourismus-Promoter ins Fäustchen, ist ihnen doch eine typisch irische Erfolgs-Story gelungen. Sie haben mit wenig Einsatz ganz schön viel erreicht. Sie haben sich dessen bedient, was bereits seit langem existiert: Küste, Landschaft, Himmel, Wolken, Meer, Dörfchen, Klippen, Strände, Straßen und Sträßchen. Sie haben ein paar tausend neue Schilder aufgestellt und ein aufmerksamkeitsstarkes Etikett drauf geklebt: „Wild Atlantic Way“. The Irish Way eben.

Wir browsen durch die Landschaft, als sei sie Google Maps

Der Wild Atlantic Way verändert das Reisen in Irland radikal, und trägt dem durch Internet und Smartphone veränderten Reisen konsequent Rechnung. Das Land wird nun völlig anders bereist als noch vor einem Jahrzehnt. Im Normalfall mieten sich Irlandgäste heute einen Mietwagen oder poltern eben mit einem Wohnmobil über die mäßig gepflegten Asphaltpisten (manche auch mit dem Motorrad). Sie wollen möglichst viele der 189 „Signature Points“, der mit einem rostigen Eisengalgen kenntlich gemachten, ganz besonders einzigartigen Aussichtspunkte, ansteuern. Gerne kaufen sie sich auf einem Postamt den Wild Atlantic Way Passport und sammeln entlang des Weges möglichst viele Stempel. Als beglaubigter Irland-Reisender hat man auf Facebook und Instagram immer etwas vorzuzeigen.

Ein Bekannter stoppte kürzlich am Aussichts-Galgen von Dooneen an der Spitze der Beara Halbinsel die Verweilzeit der Urlauber am Aussichtspunkt. Fürs Aussteigen, Foto knipsen, eventuell ein Selfie, Beine vertreten, eine Pinkelpause und Einsteigen benötigten die Gäste an jenem Tag zwei bis maximal vier Minuten. Dann ging die Jagd weiter. Zum nächsten Rost-Galgen. Zum nächsten Foto. Zum nächsten Stempel.

Waterville liegt als einzige Gemeinde des berühmten Ring of Kerry direkt am Atlantik. Das Städtchen ist bekannt für seine Strandpromenade und für seinen prominentesten Fan, Charlie Chaplin. Im Herbst traf ich dort Marnie. Sie betreibt ein bekanntes B&B in Waterville. Marnie sieht skeptisch in die touristische Zukunft. Sie sorgt sich wegen der Pläne, direkt auf der Promenade ein großes Tourismus-Zentrum zu bauen und den geräumigen Parkplatz massiv zu vergrößern.

Schon heute, sagt sie, kann man im Sommer in der Lunch-Zeit zwischen 12 und 15 Uhr wegen der parkenden Wohnmobile und Busse in Waterville das Meer nicht mehr sehen. Am Nachmittag kehrt dann Ruhe ein in der Stadt. Zu viel Ruhe. Die Restaurants und die Pubs klagen seit Jahren: Die Gäste werden weniger. Waterville ist zum Durchgangsort am Wild Atlantic Way geworden. Der Wohnmobilist isst am liebsten an Bord oder in der frischen Luft direkt neben der Bordküche. Was will er da noch in Watervilles eng gebautem Innenstädtchen?

Wir reisen wie wir leben: Urlauber begreifen die Landschaft heute gerne als eine Oberfläche, die sie wie das Internet zügig nach schnellen Eindrücken, Kicks und Highlights durchsuchen. Sie „browsen“ flüchtig durch Dörfer und Landschaften als bewegten sie sich mit dem Mauszeiger durch Google Maps. Die Wenigsten lassen sich noch auf einen Ort und seine Bewohner ein, oder bleiben zur Entschleunigung einmal eine ganze oder sogar zwei Wochen. Kontakte, gute Gespräche, gar neue Freundschaften zwischen Gastgebern und Gästen, sind eine Rarität geworden. Dies ist die Ära der Browser. Der Wild Atlantic Way, so klagt Marnie, bedient diese neue Reise-Mentalität perfekt. Und das Womo rollt weiter, dem nächsten Sonnenuntergang entgegen. Ein geschlossenes System. Sich selbst genug. Der Weg ist das Ziel.

 

Camperwahn Irland

 

Gestern bedeutete mir ein schlecht gelaunter Baumgartner, ich solle unbedingt schreiben, dass Irland für Wohnmobile eigentlich gar nicht geeignet sei. Das ging mir dann wirklich zu weit. Obwohl: Irland-Novizen staunen immer, wie abgeriegelt und mit zigtausenden Zäunen die vermeintlich offene Landschaft am Atlantik versperrt ist.

Wer außerhalb der Dörfer einmal versucht hat, zum Ausruhen an der Landstraße anzuhalten, wird schnell frustriert. Oft fährt man viele Kilometer am Zaun oder an den ewigen Mauern entlang, um eine einsame Einfahrt oder einen abgefahrenen Seitenstreifen zu finden. Parkplätze entlang der Landstraßen sind absolute Mangelware, und wer tatsächlich einen größeren Parkplatz findet, muss mit dem Wohnmobil meist draußen bleiben.

Im Dauerkampf mit der ungeliebten Minderheit der bis heute unterwegs lebenden Iren, die gemeinhin als „Traveller“ (Reisende) bekannt sind, verbarrikadieren die Lokalverwaltungen die meisten Parkplätze mit tief hängenden Durchfahrtschranken in zwei bis 2,20 Meter Höhe. Wo aus dem Wohnmobil ein Lebensprinzip wird, hört der Spaß auf: Die Mehrheitsgesellschaft bremst ihre fahrenden Mitbürger gnadenlos aus und zwingt sie zur Sesshaftigkeit.

Wildes Campieren und das Übernachten in der freien Landschaft sind auf der grünen Insel übrigens generell verboten – und doch machen es die Eingeweihten ohne zu zögern, da in Irlands wildem Westen das Gesetzespapier meist recht geduldig ist: Wer die abgelegenen Geheim-Tipps und die verschlungenen Wege kennt, kann sich in traumhafter Landschaft direkt am Meer, in der ersten Reihe für den Sonnenunter- und den Aufgang positionieren. Und dafür gibt es ja auch diese Insider-App . . .

“Auf keinen Fall“, meutert Baumgartner, „das verrätst Du jetzt nicht auch noch . . . “ Also gut, dann nur so viel: Irland hat etwa 85 registrierte Caravan-Parks mit 6400 Stellplätzen – und jede Menge Plätze ohne den offiziellen Stempel, und doch mit Strom und Wasser. Lasst rollen. Es lebe der Camperwahn!