Irland 1979

Das Curragh: Ikonisches Boot des irischen Westens. Traditionell gebaut aus Holz und geteerter Leinwand

 

Erinnerungen an das alte Irland. Die Gartenfotografin Elke Borkowski* schickte mir im Herbst ein paar Irland-Fotos aus den frühen 80er Jahren. Sie hatte die Aufnahmen in der Gegend um Quilty im County Clare gemacht. Wunderschöne, markante Schwarzweiß-Dokumente aus dem alten Irland, die dann hier auf Irlandnews erschienen sind. Elkes Reminiszenzen ermunterten mich, endlich das zu tun, wovor ich mich so lange gedrückt hatte: Ich stieg in die Untiefen meiner diversen,  von den ständigen Mitarbeitern Chaos & Entropie verwalteten Archive, fischte nach all den Fotobündeln von zahlreichen Reisen und  Irland-Aufenthalten und sortierte, sortierte und scannte.

Vor vier Jahrzehnten war Irland ein anderes Land. Anders als das Irland der Gegenwart, anders vor allem als der große Rest von Europa. Irland war vergleichsweise arm, es war unterentwickelt und nicht industrialisiert. Es war reich an Natur, intakt, unzerstört, das Leben auf den ersten Blick ruhig und gemächlich. Hier dominierten Wetter und Kirche das Leben, während im Rest von Europa die Herrschaft des Konsumkapitalismus aufzog.

In diese Andersartigeit und Ungleichzeitigkeit haben Generationen wunder deutscher Seelen ihre Sehnsüchte und Wünsche projiziert, während die Menschen auf der Insel sich nach einem anderen Leben sehnten – frei vom Zwang des Klerus und der Konventionen, gesegnet mit Geld, Konsum und Unterhaltung. Auch ich war seit den späten 70-er Jahren in Irland unterwegs und suchte hier, was ich in der Heimat nicht finden konnte. Dieses Irland, das wir suchten, gibt es heute nicht mehr. Genau genommen hat es nie existiert.

 

Doolin County Clare

Abfahrt von Doolin, County Clare, in die Galway Bay Richtung Inis Óirr

 

Meine eigene Irland-Story begann im Jahr 1979. Ich hatte die Fiedeln der Horslips und die Gitarrenriffs von Rory Gallagher gehört, zudem Fotos von irischen Landschaften gesehen. Zurück aus dem dechiffrierten Traumreiseziel New York war nun Kontrast-Programm angesagt: Ich fühlte mich magisch angezogen von der kleinen grünen Insel am westlichen Rand Europas. Warum genau blieb unklar, also sah ich nach.

Ich hatte meinen Volontärs-Ausbilder Martini damals genötigt, mir mindestens fünf Wochen am Stück frei zu geben, damit ich die lange Landreise nach Irland antreten konnte. Am Ende gab der Klügere nach: Im Juli 1979 trampte ich nach Westen. Den Sountrack zu meinem inneren Road Movie hatte Gerry Rafferty, britischer Sohn eines Iren und einer Schottin, geschrieben: Island, von der LP City to City.

 

Aran inseln

Aran-Fischer mit Pfeife im insel-typischen Kniesitz

 

Ich war Jung-Journalist, Geld knapp in jenen Tagen. Per Anhalter gelangte ich durch Frankreich, England und Wales nach Irland. Kaum angekommen, nur eine Anhalter-Tour vom Fährhafen von Rosslare landeinwärts, saß ich schon mittendrin, gemütlich beim Tee mit fremden Menschen, die seltsam freundlich und anteilnehmend sprachen. Um uns herum das weite grüne Land. Elegante Schlichtheit. Schönheit. Eine Natur- und Kulturlandschaft, an der ich mich nicht satt sehen konnte.

Es war die Zeit, als auf den engen Sträßchen Irlands nur wenige Autos verkehrten, als die Menschen auf dem Land noch mit Esel und Karren unterwegs waren, als die Dörfer einen Shop, ein Pub, eine Kirche und eine Polizeistation hatten und die Cottages für 15 000 Mark die Besitzer wechselten. Hier war alles anders als zuhause in Deutschland — und doch so vertraut. Es war wie Liebe auf den ersten Blick. Was suchte ich? Das Andere. Das Fremde. Ich fand das Fremde im Vertrauten.

 

Inisheer

Stein-Reich: Die skurrilen Kalksteinfelsen des Burren setzen sich auf den Aran-Inseln fort

 

Mit 20 Jahren war ich weder sonderlich strukturiert noch wirklich diszipliniert. Ich ließ mich leiten. Die ersehnte Pause vom Schreiben verbot den Gedanken an ein Reisetagebuch strikt. Die Reise hatte dennoch ein paar Ziele: Ich wollte nach Lisdoonvarna zum Folk Festival. The Chieftains sehen, The Fureys, De Danann und Ralph McTell. Trampen in Irland war schwierig und langsam. Ich kam am Montag in Lisdoonvarna im County Clare an und fand nur noch eine riesige, platt getretene Wiese voller leerer Bierflaschen vor. This Bird Has Flown. Das zweite Ziel erreichte ich: Ich übernachtete in der Jugendherberge von Killary Harbour, dort wo der Philosoph Ludwig Wittgenstein in den 40-er Jahren gedacht hatte. Ich war damals fasziniert von seinem Satz, den ich nicht richtig verstand:

“Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen”

Auch Ziel drei klappte: per Fähre. Ich wollte möglichst weit an den Rand des Kontinents, ganz nach Westen. Über Doolin erreichte ich mit Bill O`Briens Fährboot The Happy Hooker die Aran-Insel Inis Òirr (Inisheer). Das war sie. Die wirklich andere Welt. Ich blieb auf der kleinen Insel, so lange ich nur konnte. Am 1. August musste ich in London sein, am 5. zurück am Redaktions-Schreibtisch im Südschwarzwald. Es waren Tage, die mich prägten.

 

Inis Oirr

Nach getaner Arbeit wird das Curragh an Land gebracht

 

Dreimal umziehen ist wie einmal abgebrannt, heißt es. Bei 19 Umzügen will ich mir nachsehen, dass so Manches auf der Strecke blieb. Unter anderem die meisten Film-Negative meiner frühen Irlandreisen – und von der 1981-er Reise blieben nur ein paar wenige Fotoabzüge übrig. Die kleinen Pretiosen vergammelten wohl – vergessen in einem Keller in Heidelberg. Sei’s drum, ein Teil ist gerettet.

Hier also das Ergebnis meines Sortieren uns Scannens: Eine kleine Auswahl aus den Fotos von der Aran-Insel Inisheer aus dem Jahr 1979. Ein großer Dank an Elke für die Inspiration.

Inis Óirr Curragh

Zwei starke Arme: Curragh mit Einmannantrieb

 

Fotos aus dem alten Irland; Inis Óirr, Aran Islands, 1979

Inis Óirr die kleinste der drei Aran-Inseln in der Bucht von Galway, hatte 1979 gut 250 Einwohner, Strom, ein paar Traktoren, keine Autos. Die Straßen waren erdgebundene Wege, von Beleuchtung keine Spur. Hier war die Neumondnacht tief schwarz. Es gab einen Shop mit Post, die Schule, die Kirche, ein Pub, eine Céilí Hall, den Friedhof im Dünensand, einen Leuchtturm, ein altes Schiffswrack am Strand, ein paar B&Bs – und das Flugfeld von Aer Arann. Die Menschen sprachen überwiegend Irisch, sie lebten sehr einfach, betrieben Landwirtschaft und fischten. Der Shop von Ruari hatte eine Käsesorte (Galtee Schmelzkäse) und zwei Teesorten im Angebot. Im Pub trank man überwiegend schwarzes Bier, das ins Licht gehalten einen Rotschimmer warf: Stout, Porter. Guinness. Wein kannten die Insulaner vom Hörensagen, Nudeln und Reis hatten den Weg hier hinaus in den Atlantik noch nicht gefunden.

In den Sommermonaten schickten Eltern aus dem ganzen Land ihrer Kinder zum Irisch-Sommerkurs auf die Gaeltacht-Insel. Die Kinder raunten mir in Englisch zu, wie sie die Summer School “hassten” und dass ihnen dieser Sommer überhaupt nicht gefiel. Das Regime in der Sommerschule war streng. Die Mädchen und Jungen durften kein Wort Englisch sprechen. Wiederholte Verstöße führten zur vorzeitigen Heimreise.

Die Waren kamen einmal die Woche per Schiff. Sie wurden zumeist im küstennahen Meer in die Curraghs, die traditionellen Holz-Boote der Insulaner, umgeladen und dann an Land gebracht. Einen funktionalen Landungspier wie heute gab es damals nicht. Am Delivery Day war die gesamte männliche Hälfte des Dorfes auf den Beinen. Die Frauen daheim freuten sich über frische Kartoffeln und ein schönes Stück Seife, die Männer über den gärigen Stoff in den silbernen Fässern.

 

Inisheer 1979

Farmer Máirtín mit Eselskarren und Border Collie

Ich kam bei Bridgie und Máirtín im Formna Village unter, einem der fünf Dörfer auf der knapp zehn Quadratkilometer großen Insel. Das Farmer-Paar lebte ein einfaches und zufriedenes Leben.  Die Beiden tranken dicken schwarzen, süßen Tee, aßen Eier, Speck und Bohnen, Brown Bread mit Marmelade oder Schmelzkäse, viele, viele Kartoffeln, Suppen, etwas Gemüse. Ich dann auch. Der Abfallhaufen war direkt unter dem offenen Küchenfenster. Von Plastik keine Spur.

Máirtín nahm mich jeden Tag mit zur Arbeit. Wir fuhren auf dem einachsigen Eselskarren über die Insel. Wir saßen samt Border Collie auf der Karre, er rechts, ich links. Der Esel musste hart arbeiten. Wir fuhren zum Feld, die Kuh melken, wir sammelten Seetang und legten ihn auf den Felsen zum Trocknen aus. Manchmal wies mich Máirtín, ein ruhiger, in sich ruhender Mann, auf die anwesenden Ortsgeister am Strand und an Quellen hin. In meinem Kopf sang Gerry Rafferty Island.

 

Inis Óirr 1979

Der Insel-Briefträger bringt die Post

Immer um die Mittagszeit kam der Briefträger vorbei. Zu Fuß. Ein fröhlicher Mann, der den Empfängern stets auswendig erzählen konnte, was alles auf den bunten Postkarten vom Festland und aus dem Ausland geschrieben stand. Wenn er verschlossene Briefe übergab, hatte er genug Zeit mitgebracht, um geduldig zu warten und ein paar der Neuigkeiten für die Nachbarn mitzunehmen. Der Briefträger war gleichzeitig das Insel-Radio.

 

Formna Village

Nach getaner Arbeit sitzt Farmer Máirtín am Herd

Nach getaner Arbeit saßen wir am wärmenden Herd in einem Raum, der als Küche, Ess- und Wohnzimmer diente. Máirtín sagte gerne gar nichts. Er war ein großer Schweiger. Bridgie freute sich, wenn es mir schmeckte. Die eigenen Kinder waren lange aus dem Haus. Zum Abschied schenkte ich Máirtín meine Taschenlampe, die er täglich mehrfach ausgiebig bewundert hatte, und schickte ihm später Ersatz-Batterien. Als ich 1981 auf die Insel zurück kehrte, war Bridgie Witwe: ” The Lord took him away”. Máirtín ruht seit 1980 auf dem Friedhof unterhalb des Hauses im Sand einer großen Düne.

 

Doolin Burren

Abschied von Inisheer: Zurück in der Burren-Landschaft Doolins

Fortsetzung möglich.

Technisches: Ich habe diese Aufnahmen mit einer damals schon betagten Analog-Sucherkamera von Agfa mit Festobjektiv und Filmen von Ilford (FP4 und HP5) fotografiert. Erst heute fiel mir auf, dass ich damals sehr gerne Menschen fotografierte – die Fotos der letzten zwei Jahrzehnte zeigen bevorzugt menschenleere Landschaften . . .

Wenn Irlandnews-LeserInnen selber gerne in ihr Irland-Fotoarchiv steigen wollen und ihre eigenen Fotos zu einer kleinen Story verbinden, dann könnte hieraus leicht eine hübsche Serie entstehen. Mail bitte an markus@irlandnews.com.


* Die Fotos von Elke Borkowski aus dem Irland der 80-er Jahre gibt es hier zu sehen: KlicK


Alle Fotos: © Markus Bäuchle