»Ich wurde mit einem exzentrischen Herzen geboren. In einer meiner Herzkammern, wo die meisten Menschen drei Türen haben, habe ich nur zwei. Zwei Schwingtüren, die Weihnachten 2016 aus den Angeln gerieten.« (S. 13)

 

Groß in großen Tönen

 

Surrender 40 Songs, eine Geschichte, von Paul Hewson (alias Bono),
übersetzt von Charlotte Breuer und Norbert Möllemann.

Ein Lesebericht von Ellen Dunne

Ah, Bono. Am U2-Sänger und Sprachrohr einer der weltweit erfolgreichsten Rockbands und dem vielleicht bekanntesten irischen Exportprodukt seit Guinness, scheiden sich die Geister. Vor allem in Irland, wo man dem großen Erfolg seit jeher misstrauisch gegenübersteht, und einem großen Ego erst recht. Beides hat der als Paul Hewson in Nord-Dublin geborene Mann von 1,69 Metern im Übermaß. Außerdem Sendungsbewusstsein, einen ausgesprochenen Glauben und den schier übermächtigen Drang zum Aktivismus, der nicht so recht zu seinem pragmatischen Geschäftssinn passen mag. Kurz: Bono ist ein Mann der Widersprüche. Und er lehnt sich weit aus dem Fenster. Da kann man tief fallen, vor allem in der öffentlichen Meinung. Fast reflexartig arbeitet man sich in Irland in Artikeln und Kommentarspalten am hassgeliebten großen Sohn der Insel ab. Bono-Bashing ist hier Volkssport, gefühlt noch beliebter als Golf.

Um gleich die Karten auf den Tisch zu legen: Meine Jugend hat sich (abgesehen von einer Obsession mit Prince) zum Soundtrack von Achtung Baby & Co abgespielt. Ich war auf mehreren U2 Konzerten, und so wie fast alle, die längere Zeit in Dublin leben, bin ich dem „man himself“ mehrmals begegnet – wenn auch nur zufällig. Von Heldenverehrung halte ich ebensowenig wie von Verteufelung, aber trotz Wohlwollen war ich immer wieder mal genervt von Bonos Allgegenwärtigkeit. Ab 2009 habe ich schließlich das Interesse verloren, die zwangsverordneten und über Apple gelieferten „Songs of Innocence“ habe ich kaum gehört.

Nun also die Autobiografie Surrender: 40 Songs, eine Geschichte. Meine erste Reaktion war: 664 Seiten? Really? Und warum muss man im lokalen Buchladen wirklich die gesamte Auslage mit seinem Konterfei tapezieren? (Achtung, Spoiler: Der Buchladen liegt gleich gegenüber von Bonos Stamm-Pub.) Meine Augen rollten sich schon mal warm. Trotzdem war ich neugierig. Wie würde sich Bono als Autor machen? Würde ich ihm bis ans Ende seines Monologes folgen? Oder würde mir auf dem Weg zur letzten Seite vom Geruch nach Selbstbeweihräucherung schlecht werden? Nicht einmal ganz zwei Wochen später war ich durch – und über weite Strecken wirklich angetan.

Ellen Dunne, Foto ©Orla Connolly

Die Vorkosterin: Ellen Dunne stellt auf Irlandnews lesenswerte Bücher aus und über Irland vor. Im Salzburger Land geboren und aufgewachsen, weckten zunächst die Berichte über den Nordirland-Konflikt in den 90ern ihr Interesse an der Insel. Seit 2004 lebt sie in und um Dublin, wo sie zunächst mehrere Jahre im Google Europa-Hauptquartier arbeitete. Inzwischen ist sie freie Texterin und Autorin. Ihre bisherigen Romane und Kurzgeschichten werden bei Haymon, Suhrkamp/Insel und Eire verlegt. Auf IrlandNews schreibt sie über Literatur aus und über Irland. Mehr über Ellen gibt es unter www.ellen-dunne.com Foto: ©Orla Connolly

Vom großen Trauma zur großen Liebe

Das Herz spielt in Surrender eine große Rolle. Nicht nur, wenn Bono von seiner Herzoperation berichtet, der er sich 2016 unterziehen musste. Schon mit 14 ereilt ihn das größte Trauma seines Lebens. Seine Mutter Iris bricht während des Begräbnisses ihres Vaters bewusstlos zusammen und verstirbt zwei Tage später an den Folgen eines Blutgerinnsels im Gehirn. Aus Ungläubigkeit wird Schock, dann Trauer, die der Teenager Paul in Wut ummünzt. Eine Wut, die auch das konfliktbeladene Zusammenleben mit seinem Vater Bob und seinem älteren Bruder Norman prägt und mit der er erst mit den Jahrzehnten umzugehen lernt. Der frühe und vorzeitige Tod seiner Mutter bleibt aber jahrzehntelang Inspiration und Begleiter von U2-Songs wie z. B. „I Will Follow“.

In seinen drei Schulkollegen David, Adam und Larry und der gemeinsam gegründeten Band namens „The Hype“ findet Bono (den Namen bescherten ihm „Bono Vox“, ein lokaler Hörgeräteladen und ein inspirierter Schulfreund). In derselben Woche führt er seine Schulkollegin Ali zum ersten Date aus. Über 40 Jahre später spielen dieselben Männer noch immer unter dem Namen U2, und Bono ist noch immer mit Ali verheiratet. Eine Geschichte, so überlebensgroß und emotional, wie die Musik der Band – und die Worte ihres Frontmans:

»Die Musik von U2 war eigentlich nie Rock’n’Roll. Unter ihrer zeitgenössischen Haut ist sie Oper – große Musik, große Gefühle, freigesetzt in der Popmusik der Jetztzeit. Ein Tenor als Frontmann, der nicht akzeptiert, dass er ein Bariton ist. Ein kleiner Mann, der gigantische Songs vorträgt. Der heult und wehklagt und versucht, das Unerklärliche zu erklären. Der versucht, sich selbst und jeden, der zuhört, aus dem Gefängnis menschlicher Erfahrung zu befreien, die die Trauer nicht erklären kann.« (S. 55)

Klingt sentimental? Übertrieben? Vielleicht. U2, so steht es mehrfach geschrieben, waren nie wirklich cool. Sie standen für große Gefühle, große Gesten, Überambition und immer mal wieder schwurbelige Peinlichkeit. Aber das macht es eben auch menschlich, berührend und echt. Die Passagen, die er seiner Frau, der Familie und den alten Nachbarn, den Bandkollegen und seinem Team widmet, waren die für mich besten, voller Wärme, Witz und Wertschätzung für jene Menschen, die seinen außergewöhnlichen Lebensweg begleitet bzw. ermöglicht haben. Dabei spart Bono nicht mit großen Worten, aber auch nicht mit Selbstkritik und Ironie. Vom „Dachs auf dem Kopf“, den er zu seiner Hochzeit als Frisur trug bis zu freimütig eingestandenen Schwächen (nicht nur) musikalischer Natur.

»Eines steht fest: Als Musiker übertreffen meine Ambitionen meine Fähigkeiten bei weitem. Ich höre die Musik im Kopf, aber ich kann sie nicht spielen. Ich bin wie jemand, der nicht malen, nicht zeichnen kann und der deshalb versucht, sich der Hände anderer Künstler zu bedienen. Ein großer Teil meiner Wut ist Ausdruck meiner Unfähigkeit, mich auszudrücken, womit ich sicher nicht allein bin. Ich hatte nur wenige Gitarrenstunden, bin also total abhängig von meinen drei Freunden. Ich muss mein Ego zurückstellen, denn ohne die Fähigkeiten meiner Freunde, sich auszudrücken, habe ich nichts. Weniger als nichts. Leere. Ein schwarzes Loch. Das Einzige, was ich heute zu bieten habe, ist ein aufgeblasenes Ego.« (S. 92)

Ein Philosoph, der ungern schweigt

Dieses Ego ist natürlich nicht nur Schwäche, sondern auch Motor. Und so begnügt sich Bono nicht mit den frühen Erfolgen von U2. Nicht nur die Band, auch er selbst erfindet sich immer wieder neu, und das zum Teil unglaublich erfolgreich. Das Maß an Disziplin, Loyalität und Freundschaft, die das Unternehmen U2 und offenbar auch Bonos Ehe aufrecht erhalten haben, ist, gelinde gesagt, beeindruckend.

Vom Prediger zum Entertainer zum Aktivisten und zurück: Bonos viele Gesichter der 40 Jahre seiner Entwicklung, und sie alle bekommen ihren Platz in Surrender. Viel Platz. Denn ja, Bono neigt neben zahllosen unterhaltsamen Anekdoten über die Band und den wachsenden Kreis von Celebrity-Freunden auch zum Schwadronieren, Philosophieren und Missionieren. Über weite Strecken ist das auch interessant, die Kapitel über seine Aktivitäten zur Bekämpfung von Armut und Aids ausführlich teilweise erschütternd.

»Es macht mich wütend, dass die Welt das alles zulässt. Als meine Familie und meine Freunde wissen wollten, warum ich so viel Zeit in den Korridoren der Macht verbracht, mit all diesen Anzugträgern verhandelt, all diese verdammten Hände geschüttelt hatte … dann brauchte ich nur von dem Krankenhaus in Lilongwe zu erzählen.« (S. 479)

Rockstar meets reality

Bono war immer politisch und bereits Gutmensch, als das Wort noch weniger emotional besetzt war. Er hat seine “Währung des Ruhms”, wie er es nennt, mehr in den guten Zweck investiert als viele andere seiner Zunft. Die moralischen Kompromisse, die er schließen musste, um mit diesen ambitionierten Projekten bei den Mächtigen nicht nur Gehör zu finden, passen einfach nicht zum Podest der rechtschaffenen Sozialkritik, die er mit U2 vor allem in den ersten Jahren vertreten hat. Von diesem Podest zu stürzen, war der Preis für das Engagement, denn es führte zu Widersprüchen und Konflikten, die nicht wirklich aufzulösen sind.

Darf jemand, der jahrelang gegen soziale Ungerechtigkeiten angesungen hat, später einen großen Teil der Einnahmen seiner Band ins steuersparendere Ausland verschieben, wenn auch legal? Wird er zum Verräter, wenn er mit einem von der Geschichte als Kriegstreiber geächteten Präsidenten fraternisiert, um Schuldenerlass für Afrikanische Staaten zu erwirken oder AIDS effektiver zu bekämpfen? Das sind Fragen, die sich Bono auch in seinem Buch stellt. Die Antworten fallen manchmal reflektiert, manchmal trotzig aus,. Und manchmal entwaffnend nachdenklich :

 »Einsatz, Ehrgeiz, Pflicht, Loyalität, der Wunsch, der Beste zu sein das Bedürfnis, Ja zu sagen – nicht das Schlechteste, solche Charakterzüge in Ehren gehalten zu haben. Ich habe sie immer als Stärken betrachtet, aber in letzter Zeit frage ich mich, ob sie vielleicht eine Tarnung waren für etwas weniger Ehrenvolles. Für den Wunsch, immer im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Gott nach meinem Vorbild zu schaffen, ihr über die Straße zu helfen, als wäre SIE eine alte Dame. Die ständige Sehnsucht, vom Außergewöhnlichen erfüllt zu werden, die dazu führt, dass man das Gewöhnliche nicht mehr zu schätzen weiß. « (S. 645)

Die Menschen hätten ein Problem damit, wenn Rockstars nicht jung genug sterben. Eine Weisheit, die ihm Punk-Legende Patti Smith mit auf den Weg gegeben habe, berichtet Bono. Ein Schicksal, von dem der inzwischen 62jährige wohl sein eigenes Lied singen kann. Wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis er es tut. Wahrscheinlich werde ich ihm auch dann wieder gerne zuhören. Und dabei hin und wieder mit den Augen rollen.

Meine Meinung

Surrender: 40 Songs, eine Geschichte von Bono lesen ist wie U2 hören. Episch breit, ausufernd aber kaum je langweilig, großkotzig und selbstkritisch, berührend emotional und manchmal nervig belehrend. Für Fans also ein absolutes Muss, für überzeugte Bono-Hasser findet sich natürlich auch genug Munition. Alle anderen erwartet ein lesenswerter, gut geschriebener Ritt durch die Geschichte einer außergewöhnlichen Band, und in die vielschichtige Persönlichkeit eines Rockmusikers, der auszog, um mehr zu sein als das.

 

Surrender: 40 Songs, eine Geschichte 

Bono (Paul Hewson), übersetzt von Charlotte Breuer und Norbert Möllemann
Erschienen im Droemer Knaur Verlag, 696 Seiten

Erhältlich im lokalen Buchhandel oder beim fairen
Online-Buchhändler Buch7  für 32 €

 


Irlandnews-Buchtipps: Alle Buch-Rezensionen von Ellen Dunne gibt es hier.


Fotos:  Titelfoto & Beitragsfoto © Ellen Dunne, Portrait Bono von John Hewson, Wikimedia Commons; Foto Ellen Dunne (© Orla Connolly)