»Deine Ohren sind nicht wie meine. Ich habe drei Monate gebraucht, um das zu bemerken. Das tut mir leid. Nein, es tut mir nicht wirklich leid. Ich war einfach so beschäftigt. Es gibt so vieles zu bedenken, jetzt, wo wir zu zweit sind. Früher warst du nicht da, jetzt bist du da. Du hast dich nicht angekündigt. Du hast nicht vorher gerufen. Wie hättest du das auch tun sollen? Jedenfalls war es ein Schock. An einem Morgen war ich nur ein Ich; am nächsten war Ich ein Wir. Ich hatte nicht genug Zeit, um mich vorzubereiten, nicht genug Zeit, um wegzulaufen.« (S. 11)

 

Sirenen von Belfast

 

Firestarter von Jan Carson,
übersetzt von Stefanie Schäfer.

Eine Rezension von Ellen Dunne

Man weiß nicht so recht, wie umgehen mit diesem Einstieg. Diese hilflos panische Liebeserklärung an ein offensichtliches Kind hat mich zunächst verwirrt zurückgelassen, und unsicher, ob dieses Buch mich, die Erste-Satz-Enthusiastin, wird packen können. Ich hätte mich nicht zu sorgen brauchen. Denn nach dem etwas unschlüssigen Beginn legt Jan Carsons in jeder Hinsicht fantastischer Roman so richtig los.

Sommer 2014 – Belfast brennt, und das in jeder Hinsicht. Eine Hitzewelle liegt über der Stadt, die protestantischen Freudenfeuer zu Ehren von „King Billy“ türmen sich in Erwartung, die üblichen Unruhen um den 12. Juli sind vorprogrammiert. Die Lage eskaliert weiter, als in einem viralen Video ein anonymer Agitator dazu aufruft, die Stadt in Schutt und Asche zu legen. Nur allzu gerne leistet man ihm in der aufgeheizten Stimmung Folge. In dieser geradezu apokalyptisch anmutenden Atmosphäre kämpfen zwei Männer auf sehr unterschiedliche Art mit ihrem Nachwuchs. Der ehemalige Paramilitär Sammy Agnew erkennt in dem viralen Brandstifter seinen Sohn und bittet in seiner Verzweiflung den eigenbrötlerischen Arzt Jonathan Murray um Hilfe. Doch der hat seine eigenen Probleme – er befürchtet, seine neu geborene Tochter habe die Fähigkeit, mit ihrer Stimme Leben zu zerstören. Das mag schräg klingen und ist es auch. Firestarter ist ein außergewöhnlicher Roman, und das im allerbesten Sinne.

Copyright: Jan Carson

»Das ist Belfast. Das ist nicht Belfast.
In dieser Stadt vermeidet man es besser, Ross und Reiter zu nennen. Namen und Orte, Daten und zweite Vornamen: In dieser Stadt sind Namen wie Markierungen auf einer Landkarte oder schwarz auf weiß geschriebene Wörter. Sie bemühen sich zu sehr, wahrhaftig zu klingen. Doch in dieser Stadt sieht die Wahrheit von der einen Seite wie ein Kreis und von der anderen wie ein Quadrat aus. Man kann blind werden, wenn man zu lange auf die Form starrt. Selbst jetzt, fünfzehn Jahre nach den Unruhen, ist es viel sicherer, die Hände in den Schoß zu legen und voller Überzeugung zu sagen: „Für mich sieht das alles gleich aus.“« (S. 16)

Ellen Dunne, Foto ©Orla Connolly

Die Vorkosterin: Ellen Dunne stellt auf Irlandnews lesenswerte Bücher aus und über Irland vor. Im Salzburger Land geboren und aufgewachsen, weckten zunächst die Berichte über den Nordirland-Konflikt in den 90ern ihr Interesse an der Insel. Seit 2004 lebt sie in und um Dublin, wo sie zunächst mehrere Jahre im Google Europa-Hauptquartier arbeitete. Inzwischen ist sie freie Texterin und Autorin. Ihre bisherigen Romane und Kurzgeschichten werden bei Haymon, Suhrkamp/Insel und Eire verlegt. 2023 erhielt sie den Glauser-Preis für den besten Kriminalroman. Auf IrlandNews schreibt sie über Literatur aus und über Irland. Mehr über Ellen gibt es unter www.ellen-dunne.com Foto: ©Orla Connolly

Jan Carson: Autorin mit Belfast im Blut

1980 geboren im County Antrim, hat Jan Carson ihre Jugendjahre in Belfast verbracht. Nach vielen Jahren an der Westküste der USA ist sie inzwischen in die Stadt ihrer Teenagerjahre zurückgekehrt und organisiert jetzt Kunstprojekte “für Alle”. Firestarter ist ihr zweiter Roman, und er wurde mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet. Verdient, finde ich. Denn Jan Carsons Blick auf das noch immer von der sektiererischen Vergangenheit geplagte Belfast, dessen Wunden nur notdürftig vernäht wurden und nun neu aufzubrechen drohen, ist originell und messerscharf. In jeder ihrer Beschreibungen von Stadt und Menschen ist ihre Verbundenheit zu spüren zu spüren, ihre Beobachtungen und Charakterisierungen gehören für mich mit zum besten, was nordirische Literatur bisher hervorgebracht hat.

»Einmal in Brand gesetzt, schlagen die Flammen bis zu hundert Meter hoch in die Luft. Die ganze Stadt wird in dichten Rauch gehüllt. Die Hitze ist ein zorniger Gott. Glasscheiben in der Nähe verziehen sich. Satellitenschüsseln welken wie wochenalte Blumen. Die Leute verlassen vorsichtshalber ihre Häuser aus Furcht, darin gebraten zu werden. Kinder schreien vor Angst und Begeisterung, und manchmal rutscht die ganze Konstruktion weg. Das Feuer fließt die Straße hinunter wie Lava aus einem Vulkan. Von Weitem und mit einer kalten Dose in der Hand ist es fantastisch anzusehen. « (S. 29)

Zwei Männer zwischen Vergangenheit und Apokalypse

In diesem Hexenkessel geraten Sammy Agnew und Jonathan Murray immer mehr ins Schwimmen. Denn Sammy Agnew hat dem Hass von früher zwar abgeschworen, spürt ihn aber noch immer in sich brodeln. Und er steckt in einem tragischen Dilemma: Soll er seinen eigenen Sohn an die Polizei ausliefern, bevor die Stadt noch mehr im Chaos versinkt? Währenddessen gerät auch das Leben von Jonathan Murray mehr und mehr in Schieflage. Er ist überzeugt, er wurde von einer Sirene verführt – und ist jetzt unverhofft alleinerziehender Vater der gemeinsamen Tochter. Was, wenn auch sie das zerstörerische Gen in sich trägt und ihre Umgebung damit dem Untergang weiht? Sie niemals zu Wort kommen zu lassen, erscheint ihm der einzige Ausweg – doch seine enger werdende Bindung zu seiner Tochter steht ihm zunehmend im Weg. Als die Hitzewelle schließlich in sintflutartige Regenfälle umschlägt, spitzt sich die Situation für beide Männer zu.

Jan Carson lässt dabei die harte Belfaster Realität mit einem magischen Realismus voller übernatürlich begabter Kinder und Fabelwesen kollidieren. Und es funktioniert ganz fantastisch. Gemeinsam mit der Autorin fühlt man mit Sammy Agnew, dessen mühsam aufgebautes Bollwerk gegen die eigene Wut angesichts ihrer Fortsetzung in seinem Sohn zu bröckeln beginnt – und spürt das Herz im Hals, wenn sich Jonathan Murray anschickt, seiner erst ein paar Monate alten Tochter die Zunge operativ zu entfernen, bevor sie ihr erstes, möglicherweise zerstörerisches Wort spricht.

Meine Meinung

Belfast und magischer Realismus? Dank Jan Carson passt das zusammen. Firestarter ist ein origineller, herausragend geschriebener und in jeder Hinsicht außergewöhnlicher Roman. Ein scharfsinniger Kommentar auf das Nordirland nach dem Karfreitagsabkommen, aber auch eine zutiefst menschliche Geschichte über die Verantwortung des Einzelnen in einer aus dem Ruder laufenden Welt. Wunderbar!

 

Herzlichen Dank dem Liebeskind Verlag für das Leseexemplar.

 

Firestarter 

Jan Carson, übersetzt von Stefanie Schäfer
Erschienen im Liebeskind Verlag, 359 Seiten

Erhältlich im lokalen Buchhandel oder beim fairen
Online-Buchhändler Buch7  für 26 €

 


Irlandnews-Buchtipps: Alle Buch-Rezensionen von Ellen Dunne gibt es hier.


Fotos:  Titelfoto & Beitragsfoto © Ellen Dunne, Portrait Jan Carson copyright Jan Carson, Foto Ellen Dunne (© Orla Connolly)