»Als Cal aus der Hintertür tritt, haben die Krähen gerade Beute gemacht.  Sechs von ihnen hüpfen im hohen nassen Gras und dem gelb blühenden Unkraut herum und hacken auf irgendwas ziemlich Kleines ein, das sich noch bewegt.« (S. 7)

 

Grüne Idylle, dunkler Kern

 

Der Sucher von Tana French,
übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.

Rezensiert von Ellen Dunne

 

Ex-Polizist Cal sucht nach 25 zermürbenden Jahren Dienst in Chicago und einer bitteren Scheidung ein neues Leben. In einem kleinen Nest an der irischen Westküste (fiktiv, aber verortet in der Nähe von Sligo) meint er es gefunden zu haben. Er macht sich daran, ein altes Häuschen im Nirgendwo zu renovieren, arrangiert sich mit dem Wetter und der neugierigen Dorfgemeinschaft. Bis eines Tages ein Kind an seiner Tür auftaucht und ihn um Hilfe bei der Suche nach dem seit Monaten verschwundenen großen Bruder bittet, um dessen Fall sich niemand zu kümmern scheint. Cal forscht nach. Und bald schon blättert die idyllische Fassade aus dem Irland-Bilderbuch …

Ellen Dunne, Foto ©Orla Connolly

Die Vorkosterin: Ellen Dunne stellt auf Irlandnews lesenswerte Bücher aus und über Irland vor. Im Salzburger Land geboren und aufgewachsen, weckten zunächst die Berichte über den Nordirland-Konflikt in den 90ern ihr Interesse an der Insel. Seit 2004 lebt sie in und um Dublin, wo sie zunächst mehrere Jahre im Google Europa-Hauptquartier arbeitete. Inzwischen ist sie freie Texterin und Autorin. Ihre bisherigen Romane und Kurzgeschichten werden bei Haymon, Suhrkamp/Insel und Eire verlegt. Auf IrlandNews schreibt sie über Literatur aus und über Irland. Mehr über Ellen gibt es unter www.ellen-dunne.com Foto: ©Orla Connolly

Spannung + literarischer Anspruch = Tana French

Während im deutschen Literaturbetrieb noch immer gerne Unterschiede zwischen U(nterhaltung = schlecht) und E(rnst = gut) gemacht werden, verschwimmen im englischsprachigen Raum diese künstlichen Grenzen bereits seit Langem. Vor allem im Bereich der Kriminalliteratur haben sich so einige Autor*innen etabliert, die mehr verhandeln als „nur“ ein ungeklärtes Verbrechen – und das auf literarisch hohem Niveau. Eine von ihnen ist Tana French.

Nach ihrer fünfteiligen Reihe um den fiktiven Dublin Murder Squad und Der dunkle Garten ist Der Sucher nun ihr zweiter alleinstehender Roman. Als große Anhängerin der atmosphärischen und realistisch gezeichneten Kriminalromane, die stets im Dublin der Gegenwart spielen, war ich sehr gespannt – vor allem, weil das Werk ausdrücklich als Roman betitelt wird. Nicht ohne Grund. Denn Der Sucher setzt weniger auf Dramatik als auf hintergründige Spannung.

Viel Atmosphäre, viele Dialoge

Wie schon in ihren Kriminalromanen nimmt sich Tana French Zeit für ihre Charaktere, ihre Lebensumstände und Umgebung. Nur noch etwas mehr davon. Zum Beispiel für fast schon banale Dialoge wie zwischen Cal und seinem Nachbarn:

»Mart kichert, offenbar zufrieden.
„Hab dich gestern in die Stadt fahren sehen“, bemerkt er wie nebenbei. Er blickt blinzelnd durch den Garten zu Kojak hinüber, der sich mit wachsender Energie einem Gebüsch widmet und angestrengt versucht, seine ganze vordere Körperhälfte hineinzuzwängen.
„Ach ja“, sagte Cal und richtet sich auf. Er weiß, worauf Mart aus ist. „Momentchen.“ Er geht ins Haus und kommt mit einer Packung Kekse wieder heraus. „Aber nicht alle auf einmal essen“, sagt er.
„Du bist ein echter Gentleman“, sagt Mart fröhlich und nimmt die Kekse über den Zaun entgegen. „Hast du die schon mal probiert?“
Marts Kekse sind eine komplizierte Komposition aus fluffigem rosa Mäusespeck, Marmelade und Kokoscreme und sehen für Cal aus wie etwas, womit man eine Fünfjährige mit dicker Schleife im Haar bestechen könnte, ihren Trotzanfall zu unterbrechen.
„Noch nicht“, sagt er.
„Du musst sie stippen, Mann. In den Tee. Der Mäusespeck wird schön weich, und die Marmelade zerfließt dir auf der Zunge. Was Besseres gibt’s gar nicht.« (S. 29)

Als Wahlirin erfreue ich mich natürlich an der Referenz an meine eigene Guilty Pleasure (did someone say Mikado?). Aber ein wenig Geduld muss man für diesen gemächlichen Start und detaillierten Aufbau der Szenerie schon mitbringen. Belohnt wird man mit einem gut geschriebenen Panoptikum des irischen Landlebens vom Pub bis hin zu den plumpen Verkupplungsversuchen des „Blow-ins“ mit einer Frau aus dem Ort. Da geraten schon einmal die Klippen des Klischees in Sichtweite. Trotzdem: Gerade, dass Tana Frenchs Sicht auf Irland auch nach über 30 Jahren noch eine von außen ist, macht das Buch für nicht „eingeborene“ Irland-Kenner*innen oft unterhaltsam.

„Die meisten Streitereien hier sind altvertraut und können sich über Jahre oder Jahrzehnte hinziehen, um regelmäßig wieder aufzuflackern, wenn es nichts Neues zu debattieren gibt. Sie drehen sich um Methoden der Viehhaltung, die relative Nutzlosigkeit von einigen lokalen und nationalen Politikern, ob die Mauer auf der Westseite der Straße nach Strokestown durch einen Zaun ersetzt werden sollte und ob Tommy Moynihans schicker Wintergarten ein hübsches Beispiel für moderne Wohnkultur ist oder der Beweis dafür, dass er die Nase zu hoch trägt.“ (S. 49)

Die Suche nach dem Glück an gefährlichen Orten

Doch nicht nur das vermeintlich zurückgelassene Leben in Chicago verfolgt Cal bis in die irische Einschicht. Auch neues Ungemach klopft  an seine Tür – in Form des vernachlässigten Nachbarkindes Trey. Nach anfänglichem Widerstand willigt Cal ein, nach Treys verschwundenem großen Bruder Brendan zu suchen. Der suchte ein besseres Leben und ist nun seit Monaten spurlos verschwunden. Nur scheint das in der sonst so engmaschig geknüpften Dorfgemeinschaft niemandem groß Sorge zu bereiten. Weil Brendan nach London abgehauen ist? Oder weil er sein Glück am falschen Ort gesucht hat?

Cal beginnt sich umzuhören, was mit dem ältesten Sohn einer sozial geächteten Familie wirklich geschehen ist. Keine einfache Aufgabe, ohne die Autorität einer Dienstmarke im Rücken. Und natürlich bleiben Cals private Ermittlungen im westirischen Mikrokosmos nicht lange unbemerkt. Rasch lernt er das zweite Gesicht seiner bodenständig freundlichen Mitmenschen kennen …

Tana French ist eine hervorragende Beobachterin – ob Landschaft,  Alltag oder Fallstricke des menschlichen Miteinanders. Außerdem ist sie eine Meisterin der spannenden Dialoge. Sowohl dem Protagonisten als auch dem Nebenfiguren-Ensemble wird viel Empathie zuteil, niemand verkommt zur Schablone. Auch die Melancholie des irischen Frühherbstes wird geradezu spürbar. Bei aller Romanhaftigkeit wartet Der Sucher entlang einer stetig steigernden Spannungskurve mit so mancher Wendung auf – bis zum angemessen ambivalenten Ende.

Meine Meinung

Der Sucher von Tana French ist ein gut beobachteter und gewandt geschriebener, humanistischer Roman über zerstörte Träume und die dunkle Seite des (irischen) Landlebens. Perfekte Unterhaltung mit Anspruch für lange Herbstabende.

 

Der Sucher
von Tana French, übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Erschienen bei Scherz (S. Fischer Verlage), 496 Seiten.
Erhältlich im lokalen Buchhandel oder beim fairen
Online-Buchhändler Buch7 für 22 €

 


Irlandnews-Buchtipps: Alle Buch-Rezensionen von Ellen Dunne gibt es hier.


 

Fotos:  Titel- und Produktfoto Ellen Dunne, Foto Ellen Dunne (© Orla Connolly)