Lughnasa

 

Es ist das Ende einer großen Liebe: In den letzten Monaten habe ich viele Zuschriften erhalten und Kommentare gelesen, die auf das Ende einer Ära hindeuten. Menschen, die jahrzehntelang treu und begeistert ihr Lieblingsland Irland besuchten, hundertprozentige Irland-Fans und unbeirrbare Grüne-Insel-Enthusiasten, ziehen einen Schlussstrich. Sie wollen dem einstigen Sehnsuchtsland den Rücken kehren. Eine Langzeit-Besucherin der Insel schrieb zu meinem Beitrag über das Sterben der B&Bs, über fehlende Hotelkapazitäten und den Boom der Campervans: “Ein trauriger Niedergang. Ich könnte schreiben, schreiben, schreiben. Ich lass es lieber. Grüße nach Irland, das für mich in weite Ferne gerückt ist.”

Eine Irland-erfahrene Kollegin schrieb mir: “. . . hatte ich das Gefühl, mich langsam von Irland zu verabschieden. Ich weiß immer noch zwei, drei Orte, wo Gastfreundschaft sich auch in Zukunft nicht durch Professionalisierung kastrieren lassen wird, aber genügt das, um die grundsätzliche Gier zu ertragen, die Irlands Tourismus befallen hat wie Salmonellen das Ei? . . .”, und: “Hättest du dir vorstellen können, dass Rechtsextremismus in Irland so stark werden könnte, dass ukrainische Kinder sich in einigen Gegenden Dublins nicht mehr auf die Straße trauen, weil sie permanent drangsaliert werden? Da kann ich auch gleich in Ostdeutschland bleiben, wo meine Monatsmiete immer noch dreifach niedriger ist als die Wochenpreise, die zurzeit für kleine Feriencottages in Cork und Kerry verlangt werden.”

Ich lebe nun seit 23 Jahren in Irland und habe die ebenso rasanten wie gravierenden Veränderungen in der Wahlheimat hautnah erlebt. Ich verstehe, was die Menschen meinen, die das Land regelmäßig besucht haben, um etwas zu finden, was sie zuhause vermissten – und was sie nun auch in Irland nicht mehr finden können. Irland, das für unsere Generation lange deutlich anders war als unsere Heimatländer, ist für Besucher aus Deutschland, aus Österreich oder der Schweiz ein ziemlich normales, ja ein gewöhnliches Land geworden – manche meinen, ein sozial kaltes, profitgieriges, ja ein rücksichtsloses und naturzerstörerisches Land dazu. Im gnadenlosen Wettkampf um Wachstum und Wohlstand hat auch Irland seine Seele verloren. Die irische Willkommenskultur verkam zur Masche. Urlauber fühlen sich angesichts der immensen Kosten für einen Aufenthalt auf der Insel schnell abgezockt. Das Preis-Leistungsverhältnis ist aus den Fugen geraten.

Als Bürger des Landes frage ich mich auch im Jahr 2023: Wie konnte all der Wohlstand geradezu spurlos an den Krankenhäusern und am Gesundheitssystem vorbeigehen? Warum erlaubt sich dieses reiche Land, einer großen Minderheit bezahlbare Wohnungen vorzuenthalten? Warum gibt es Ausländerfeindlichkeit in einem Land, dessen Menschen seit Generationen darauf angewiesen waren, in der Fremde wohlwollend aufgenommen zu werden? Warum gibt es keine kollektive Sehnsucht, die natürlichen Schätze dieses wunderschönen Landes zu schützen und für Kinder und Enkelkinder zu erhalten?

Der Generation eines Heinrich Böll durchaus ähnlich war unsere Generation einst aufgebrochen, um auf dieser kleinen Insel im Atlantik das Andere, das Bessere, zu finden: das gerechtere Land, die intaktere Natur, die freundlicheren Menschen und eine friedlichere und buntere Kultur. Irland hatte viel von alledem – und gleichzeitig geriet das Land bald in den Sog eines atemraubenden Wandels und epochaler Veränderungen. Das einst rückständige Land holte nach – und es holte schnell auf, wie im Zeitraffer. Der Keltische Tiger brachte Wohlstand, Freiheit –  und Zerstörung. Nach der Zwangspause der Finanzkrise ging es im neoliberalen Takt munter weiter. Mittlerweile wird der Fortschritt grün angemalt. Riesige Kuhherden sollen im Namen der Klimarettung gekeult werden, stromfressende Rechenzentren dürfen sich ungehemmt vermehren. Es gibt kein Halten und viele leere Worte.

 

Irland heute

Aus einem armen Land wurde eine wohlhabendes Land,
in dem viele Menschen nicht Schritt halten können.
Aus einem unfreien wurde ein freies Land, mit freien Menschen,
frei auch von Wurzeln, Gewissheiten, Werten und Traditionen.

Aus tiefgläubigen Menschen wurden Konsumenten,
die die Shopping Mall zu ihrer neuen Kirche machten.
Aus Landgängern wurden Fahrer schicker Limousinen und SUVs.

Aus dünnen wurden dicke Menschen – die gewichtigsten in Europa.
Aus einem Volk von Farmern und Fischern wurde eine gespaltene Gesellschaft
mit Tech-Business-Gewinnern und steckengebliebenen Verlierern.

 Aus stillen Sträßchen wurden Autobahnen.
Aus saftigen Wiesen Gewerbegebiete.
Aus Städtchen und Dörfern Ballungsgebiete und Schlafsiedlungen.
Aus landverbundenen Bauern wurden Großfarmer und verarmende Kleinfarmer.

Eine einst fast klassenlose Gesellschaft ächzt heute unter krasser Ungleichheit.
Aus Solidarität und Gemeinschaftssinn wurden Ellbogenmentalität und Gier.
Aus freundlichen Erzählern wurden allzu oft Zyniker.
Aus manchen Mitmenschen Streithansel im Kampf um Schadensersatz.
Aus nachsichtig-laxer Verwaltung wurde eine digitale Kontrollbürokratie.

Aus einer warmen wurde eine kalte Kultur.
Aus der Kulturlandschaft Kapital.
Die alte Gastfreundschaft verkam zur Geschäftsmasche.
Aus dem Fremdenverkehr wurde Massentourismus.
Aus der Willkommenskultur eine Unkultur des Nehmens.

Aus Fans werden Ernüchterte, die sich abwenden und weg bleiben.

Ich bleibe hier. Auch nach 23 Jahren lebe ich gerne hier im äußersten irischen Südwesten. Dem Vergleich mit andernorts hält diese direkte Umgebung noch immer stand. Ich werde wohl noch lange hier sein –  weil ich das Glück genieße, in einer Natur-Nische am Atlantik zu leben, die vom sogenannten Fort-Schritt und der Zerstörung der Natur noch einigermaßen unangetastet blieb. Solche Refugien gibt es auch in anderen Ländern – noch. Sie ermöglichen den Rückzug in den eigenen Mikrokosmos und die Fokussierung auf das, was man liebt – nicht mehr und nicht weniger: Uns bleibt, schützende Verantwortung für diese Orte und seine Bewohner zu übernehmen, für Pflanzen, Tiere und Menschen.

 

Arche

Der Ort, die Arche: Raum für Pflanzen, Tiere, Menschen. Das rote Eichhörnchen

Enklaven, Nischen und Reservate des Schönen

Ja klar, es gibt sie immer noch: Die Menschen,  die uns faszinieren, weil sie sich der allgemeinen Entwicklung widersetzen, die Landschaften, mit denen wir eins werden, weil sie bislang von der Verwertung verschont geblieben sind. Trend, Mentalität und politischer Wille weisen jedoch in die andere Richtung. In den letzten paar Jahren fiel es mir deshalb schwerer, wie früher begeistert, empathisch und positiv über Irland zu schreiben. Mein Blick richtete sich zunehmend auf Enklaven und Nischen, auf Reservate des Schönen und Anmutigen, auf isolierte Berg-Regionen oder einzelne Natur-Archen, in denen Menschen versuchen, dem nicht-menschlichen Leben auf diesem Planeten Existenz und Raum zu überlassen. Um mich herum sehe ich nun genau dieselbe Zerstörung, die uns vor mehr als zwei Jahrzehnten zum Umzug aus Deutschland bewogen hatte. Notwendige Fahrten in die Ballungszentren Dublin oder Cork geraten mir leicht zur Last.

Alles ganz normal, ich weiß. Als ich vor 25 Jahren schwärmte, in Irland sei alles ganz anders, erwiderte mein scharfsinniger Freund vom Belchen: “Alles nur ein Mangel an Gelegenheit”. 25 Jahre später tanzt der Neoliberalismus auch in Irland den Totentanz. Es potenzieren sich die Gelegenheiten, aus Natur Kapital zu schlagen. Die gefräßigen Rechenzentren der Tech-Konzerne verbrauchen so viel Strom wie die gesamte Bevölkerung zusammen. Der ständig steigende Landverbrauch wird akzeptiert als Zeichen des Fortschritts. Das Meer wird systematisch geplündert, Tiere und Pflanzen verschwinden auf Nimmerwiedersehen; die Arten sterben weitgehend unbemerkt aus. Es braucht nun nur einen Tag und ein paar gewaltige Maschinen, um einen ganzen Berg zu zerstören. Vom kollektiven Wunsch oder gar Willen, die Zerstörung zu beenden: keine Spur.

Um den touristischen Erfolg Irlands muss dabei niemand fürchten: Längst kommen jede Menge andere Menschen ins Land, die anders reisen, die anderes suchen und auch anderes finden. All diese Veränderungen haben jedenfalls – Hand in Hand mit der erstarkenden Künstlichen Intelligenz – Auswirkungen auf mein Langzeitprojekt, auf dieses Webmagazin, Irlandnews, das im kommenden Herbst 15 Jahre bestehen wird. Sollte Irlandnews jemals ein Kernpublikum gehabt haben, das beschriebene, vermutete, dann ist dieses dabei, sich rar zu machen. Die LeserInnen, die lieben, was ich liebe, gibt es zwar immer noch – doch das Geliebte verschwindet – Tag für Tag, Jahr für Jahr ein Stück mehr.

Gleichzeitig werden sich meine Themen und meine Art des Schreibens ebenfalls verändern. Goodbye Irland, Du Schöne. Wir sehen uns, Du Gewöhnliche.

Fotos: Szene aus dem Film Dancing at Lughnasa (Filmwerbung, oben); Antje Wendel; Markus Bäuchle