Irland Weg

 

25. Mai 2020, Montag.

 

Irland Corona

Irland in den Zeiten von Corona. Wir leben auf dem Land in Irlands äußerstem Südwesten, in einer Streusiedlung am westlichen Rand Europas, direkt am Atlantik. Auch in dieser einsamen, abgelegenen Gegend wird das Leben jetzt völlig vom neuartigen Coronavirus beherrscht. Wir, Eliane [e] und Markus [m], schreiben ein gemeinsames öffentliches Tagebuch über unser Leben in Irland in Zeiten von Corona. Heute schreibt Markus . . .

Irland sucht den Weg aus der Krise. Jetzt wird Irlands Politik von der Angst vor der Angst eingeholt. Seit Mitte März führte die Regierung eine drastische Maßnahme nach der anderen zur Bekämpfung des SARS-CoV-2 Virus ein, legte das Land in ein langes künstliches Koma, das in der Strenge Vergleichbares in Europa sucht, und verordnete dann seit dem 18. Mai ein Comeback des öffentlichen Lebens, das in seiner Vorsicht und Zögerlichkeit ebenfalls den Europarekord beansprucht. Vor allem die Angst vor dem schnellen Zusammenbruch des fragilen Gesundheitssystems ließ die Regierung mit dem breiten Einverständnis der Bevölkerung schnell und drastisch handeln.

Die Menschen hier auf der Insel arrangierten sich schnell, fügten sich in die neue Lage und blieben mehrheitlich gelassen. Die Angst vor dem unsichtbaren Virus fand mancherorts alte Verbündete: die Unkenntnis und den Aberglauben. Wir kennen Menschen, die öffentliche Straßen für den Verkehr sperrten, die ihre Häuser zu Festungen ausbauten, die sich wochenlang in ihren Wohnungen verbarrikadierten, die alle Fenster geschlossen hielten und die Schlüssellöcher mit Watte verstopften, damit das bedrohliche Virus nicht herein kriechen konnte. Die Ruhe im Land war himmlisch – oder höllisch.

 

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Zwei Monate später wacht Irland langsam auf – der eine aus Träumen, der andere aus Albträumen, der dritte träumt weiter in den Tag hinein. In den Zeitungen regte sich vergangene Woche erstmals harte Kritik am Krisenmanagement der Regierung: Zu drastisch seien die Maßnahmen, zu langsam das Tempo der Wiedereröffnung des öffentlichen Lebens. Die Wirtschaft fängt an, Druck zu machen. Der Einzelhandel, Pubs, Gaststätten und Hotels, die Friseure melden sich zu Wort: Sie werden mit der verordneten Zwei-Meter-Abstands-Regel nicht klar kommen. Ein kleines Restaurant beispielsweise, das die Zwei-Meter-Regel umsetzen muss, kann gleich geschlossen bleiben. Es wird zwei Drittel seiner Kapazität einbüßen und kann so keine Gewinne erwirtschaften. Vom Drauflegen aber lebt niemand.

Die irische Geschäftswelt fordert deshalb zunehmend vehement, den von der Weltgesundheits-Organisation WHO empfohlenen Mindestabstand von einem Meter zu übernehmen. Das ist in den meisten europäischen Ländern, auch in den schwer heim gesuchten Regionen Nord-Italiens mittlerweile die Regel. Die Zweimeter-Regel ist eine nationale irische Spezialität und beruht nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen.

 

Irland Corona

 

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Die Angst vor der Angst.
 Das Virus hat auch die irische Politik in einen Schockzustand versetzt: Dreieinhalb Monate nach den Wahlen regiert noch immer der abgewählte Premierminister Leo Varadkar und verwaltet die Krise geschäftsführend. Allmählich mehren sich die Stimmen, die nur einer neuen Regierung zutrauen, den Weg in die Zukunft zu öffnen. Leo wunderte sich derweil über die Konsequenzen der selber initiierten Zwangs- und Schutzmaßnahmen. Er hat nun Angst, dass die Angst vor dem Virus die irische Gesellschaft im internationalen Vergleich schlecht aussehen lässt und mahnt seine Kabinetts-Kollegen plötzlich zu etwas mehr Eile. Irland, so Varadkar, würde schlecht dastehen, wenn es Schulen, Universitäten und Kitas als letztes Land in Europa wieder aufmachte.

Weil sich die Zahl der mit Covid-19 Neu-Infizierten im zweistelligen Bereich stabilisiert und die Zahl der Toten seit Tagen nur noch einstellig ist, gewinnt in Dublins Regierungsviertel die Frage an Bedeutung: Sind wir zu vorsichtig, schädigen wir die Wirtschaft und das Staats-Budget unnötig – und blamieren wir uns wohlmöglich mit übertriebener Vorsicht (Angst) vor dem im Eiltempo in die “Normalität” drängenden Kontinental-Europa?

 

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Schnellere Öffnung? Heute morgen berichten die Medien, dass die Regierung den Öffnungsprozess möglicherweise beschleunigen wird: Der Fünf-Stufenplan der Rückkehr des öffentlichen Lebens in Dreiwochen-Schritten könnte aktualisiert werden. Die Rede ist davon, dass Phase 4 (laut Roadmap ab 20. Juli) teilweise drei Wochen früher, ab dem 29. Juni beginnen könnte – immer vorausgesetzt, die einschlägigen Kennzahlen bleiben positiv. Würden dann beispielsweise die Hotels drei Wochen früher als geplant wieder öffnen? Würden sie ausschließlich für Einheimische öffnen, wie bislang propagiert, oder auch für Touristen aus dem Ausland?

Keiner weiß das im Moment, doch wir alle wissen mit den Worten eines abgedrifteten Ex-Idols: Dieser Weg (zurück) wird kein leichter sein . . .

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Die Lage ist unübersichtlich. Wie die deutsche Regierung hat auch die Politik in Dublin gerade den Kompass verlegt. Die anarchische Eigendynamik des Öffnens, was manche die Rückkehr zur Normalität nennen, andere den Beginn einer neuen Normalität und wieder andere den Beginn einer neuen Epoche, hat wohl auch hier eingesetzt. Der irische Staat hat dabei nicht die schier unbegrenzten finanziellen Mittel, um große Teile der Bevölkerung lange Zeit arbeitsfrei über Wasser zu halten. Der ökonomische Druck nimmt sichtbar und schnell zu.

Was wird das für den Tourismus bedeuten? Am vergangenen Freitag wurde eine knallharte Forderung der obersten Seuchenmediziner der Insel erregt diskutiert. Sie fordern, dass in diesem Sommer alle Menschen, die aus dem Ausland einreisen, zwei Wochen in strenge Quarantäne gehen müssen – und dies in Designated Facilities, also in Einrichtungen, die der Staat bestimmt und zur Verfügung stellt. Dass Einreisende zwei Wochen lang in leeren Hotels oder anderen Einrichtungen kaserniert und isoliert werden sollen, wäre die radikalste Maßnahme einer europäischen Regierung überhaupt. Ob es soweit kommt, erfahren wir hoffentlich in dieser Woche. Man muss jedenfalls kein Prophet sein, um zu erahnen: Dies wäre das Aus des internationalen Tourismus von und nach Irland im Jahr 2020. Egal, wie sich das Kabinett in Dublin entscheiden wird: Dieser Weg wird kein leichter sein . . .

 

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Auch das noch: Die Pubs sollen hier laut Fahrplan erst am 10. August wieder öffnen. Während der Druck der Wirte-Vereinigung   steigt, um einen früheren Start zu erzwingen, haben Pubs in Grenznähe zu Nord-Irland im Nordosten bereits eine typisch irische Lösung für das Problem gefunden: Sie verkaufen frisch gezapftes Guinness über die Straße. Die in Alufolie gehüllten Pints vom Fass erfreuen sich bereits großer Beliebtheit und locken selbst Biertrinker aus Nord-Irland über die Grenze. Die Wirte haben offensichtlich eine Gesetzeslücke ausgemacht: Wer Pints über die Straße verkauft, macht sich genauso wenig strafbar wie der Biertrinker, der seinen Durst nicht im oder vor dem Pub stillt – sondern 100 Meter entfernt. Er sollte nur nicht weiter als fünf Kilometer vom Pub entfernt wohnen. Sláinte und zum Wohl!

 

Fotos: Markus Bäuchle; Vignette: Eliane Zimmermann