25. Mai 2020, Montag.

Irland in den Zeiten von Corona. Wir leben auf dem Land in Irlands äußerstem Südwesten, in einer Streusiedlung am westlichen Rand Europas, direkt am Atlantik. Auch in dieser einsamen, abgelegenen Gegend wird das Leben jetzt völlig vom neuartigen Coronavirus beherrscht. Wir, Eliane [e] und Markus [m], schreiben ein gemeinsames öffentliches Tagebuch über unser Leben in Irland in Zeiten von Corona. Heute schreibt Markus . . .
Die Menschen hier auf der Insel arrangierten sich schnell, fügten sich in die neue Lage und blieben mehrheitlich gelassen. Die Angst vor dem unsichtbaren Virus fand mancherorts alte Verbündete: die Unkenntnis und den Aberglauben. Wir kennen Menschen, die öffentliche Straßen für den Verkehr sperrten, die ihre Häuser zu Festungen ausbauten, die sich wochenlang in ihren Wohnungen verbarrikadierten, die alle Fenster geschlossen hielten und die Schlüssellöcher mit Watte verstopften, damit das bedrohliche Virus nicht herein kriechen konnte. Die Ruhe im Land war himmlisch – oder höllisch.
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Zwei Monate später wacht Irland langsam auf – der eine aus Träumen, der andere aus Albträumen, der dritte träumt weiter in den Tag hinein. In den Zeitungen regte sich vergangene Woche erstmals harte Kritik am Krisenmanagement der Regierung: Zu drastisch seien die Maßnahmen, zu langsam das Tempo der Wiedereröffnung des öffentlichen Lebens. Die Wirtschaft fängt an, Druck zu machen. Der Einzelhandel, Pubs, Gaststätten und Hotels, die Friseure melden sich zu Wort: Sie werden mit der verordneten Zwei-Meter-Abstands-Regel nicht klar kommen. Ein kleines Restaurant beispielsweise, das die Zwei-Meter-Regel umsetzen muss, kann gleich geschlossen bleiben. Es wird zwei Drittel seiner Kapazität einbüßen und kann so keine Gewinne erwirtschaften. Vom Drauflegen aber lebt niemand.
Die irische Geschäftswelt fordert deshalb zunehmend vehement, den von der Weltgesundheits-Organisation WHO empfohlenen Mindestabstand von einem Meter zu übernehmen. Das ist in den meisten europäischen Ländern, auch in den schwer heim gesuchten Regionen Nord-Italiens mittlerweile die Regel. Die Zweimeter-Regel ist eine nationale irische Spezialität und beruht nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen.
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Die Angst vor der Angst. Das Virus hat auch die irische Politik in einen Schockzustand versetzt: Dreieinhalb Monate nach den Wahlen regiert noch immer der abgewählte Premierminister Leo Varadkar und verwaltet die Krise geschäftsführend. Allmählich mehren sich die Stimmen, die nur einer neuen Regierung zutrauen, den Weg in die Zukunft zu öffnen. Leo wunderte sich derweil über die Konsequenzen der selber initiierten Zwangs- und Schutzmaßnahmen. Er hat nun Angst, dass die Angst vor dem Virus die irische Gesellschaft im internationalen Vergleich schlecht aussehen lässt und mahnt seine Kabinetts-Kollegen plötzlich zu etwas mehr Eile. Irland, so Varadkar, würde schlecht dastehen, wenn es Schulen, Universitäten und Kitas als letztes Land in Europa wieder aufmachte.
Weil sich die Zahl der mit Covid-19 Neu-Infizierten im zweistelligen Bereich stabilisiert und die Zahl der Toten seit Tagen nur noch einstellig ist, gewinnt in Dublins Regierungsviertel die Frage an Bedeutung: Sind wir zu vorsichtig, schädigen wir die Wirtschaft und das Staats-Budget unnötig – und blamieren wir uns wohlmöglich mit übertriebener Vorsicht (Angst) vor dem im Eiltempo in die „Normalität“ drängenden Kontinental-Europa?
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Schnellere Öffnung? Heute morgen berichten die Medien, dass die Regierung den Öffnungsprozess möglicherweise beschleunigen wird: Der Fünf-Stufenplan der Rückkehr des öffentlichen Lebens in Dreiwochen-Schritten könnte aktualisiert werden. Die Rede ist davon, dass Phase 4 (laut Roadmap ab 20. Juli) teilweise drei Wochen früher, ab dem 29. Juni beginnen könnte – immer vorausgesetzt, die einschlägigen Kennzahlen bleiben positiv. Würden dann beispielsweise die Hotels drei Wochen früher als geplant wieder öffnen? Würden sie ausschließlich für Einheimische öffnen, wie bislang propagiert, oder auch für Touristen aus dem Ausland?
Keiner weiß das im Moment, doch wir alle wissen mit den Worten eines abgedrifteten Ex-Idols: Dieser Weg (zurück) wird kein leichter sein . . .
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Die Lage ist unübersichtlich. Wie die deutsche Regierung hat auch die Politik in Dublin gerade den Kompass verlegt. Die anarchische Eigendynamik des Öffnens, was manche die Rückkehr zur Normalität nennen, andere den Beginn einer neuen Normalität und wieder andere den Beginn einer neuen Epoche, hat wohl auch hier eingesetzt. Der irische Staat hat dabei nicht die schier unbegrenzten finanziellen Mittel, um große Teile der Bevölkerung lange Zeit arbeitsfrei über Wasser zu halten. Der ökonomische Druck nimmt sichtbar und schnell zu.
Was wird das für den Tourismus bedeuten? Am vergangenen Freitag wurde eine knallharte Forderung der obersten Seuchenmediziner der Insel erregt diskutiert. Sie fordern, dass in diesem Sommer alle Menschen, die aus dem Ausland einreisen, zwei Wochen in strenge Quarantäne gehen müssen – und dies in Designated Facilities, also in Einrichtungen, die der Staat bestimmt und zur Verfügung stellt. Dass Einreisende zwei Wochen lang in leeren Hotels oder anderen Einrichtungen kaserniert und isoliert werden sollen, wäre die radikalste Maßnahme einer europäischen Regierung überhaupt. Ob es soweit kommt, erfahren wir hoffentlich in dieser Woche. Man muss jedenfalls kein Prophet sein, um zu erahnen: Dies wäre das Aus des internationalen Tourismus von und nach Irland im Jahr 2020. Egal, wie sich das Kabinett in Dublin entscheiden wird: Dieser Weg wird kein leichter sein . . .
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Auch das noch: Die Pubs sollen hier laut Fahrplan erst am 10. August wieder öffnen. Während der Druck der Wirte-Vereinigung steigt, um einen früheren Start zu erzwingen, haben Pubs in Grenznähe zu Nord-Irland im Nordosten bereits eine typisch irische Lösung für das Problem gefunden: Sie verkaufen frisch gezapftes Guinness über die Straße. Die in Alufolie gehüllten Pints vom Fass erfreuen sich bereits großer Beliebtheit und locken selbst Biertrinker aus Nord-Irland über die Grenze. Die Wirte haben offensichtlich eine Gesetzeslücke ausgemacht: Wer Pints über die Straße verkauft, macht sich genauso wenig strafbar wie der Biertrinker, der seinen Durst nicht im oder vor dem Pub stillt – sondern 100 Meter entfernt. Er sollte nur nicht weiter als fünf Kilometer vom Pub entfernt wohnen. Sláinte und zum Wohl!
Fotos: Markus Bäuchle; Vignette: Eliane Zimmermann
Ahoi, hab die Tagebucheinträge mit großem Interesse verfolgt, danke! Wir (Familie mit zwei Kindern 7 und 10 Jahre alt) haben geplant ab Mitte August für 1 Jahr nach Irland zu ziehen inkl. Schulbesuch dort. Das könnte schwierig werden oder? Uns rauchen schon die Köpfe vom vielen Herumüberlegen und nicht wirklich eine Entscheidung treffen zu können. Wie ist denn die Lage allgemein? Wird von einer zweiten Welle ausgegangen? Würd mich sehr über eine Antwort freuen! Herzlichen Dank und alles Gute aus Österreich!
Habt Ihr eine Wohnung und eine Schule?
Schulplätze haben wir schon, aber eine Wohnung noch nicht. Wir würden dann vor Ort was passendes suchen… gestaltet sich die Suche nach einem Wohnsitz schwierig?
Es ist sicher nicht das beste Jahr für solch ein Projekt. Aber was heißt das schon? Die Abwägung von Chancen und Risiken liegt bei Euch. Niemand weiß im Moment, ob es eine zweite Welle geben wird – und wenn ja, was das real und politisch bedeuten wird.
Hi, ja danke! Haben uns dafür entschieden und freuen uns schon auf das Jahr, alles Gute!
Aber ich beziehe Stellung: die Einfältigkeit der Leute ist grenzenlos und damit meine ich jetzt nicht die Kritik der Corona-Politik, sondern genau das Gegenteil: die bereitwillige Befolgung irgendwelcher Schutzmaßnahmen, die völlig absurd sind und der Glaube daran, dass die Regierung nur das Beste für uns will, dass alles nur unserem Schutz dient. Wie bescheuert kann man denn nur sein? Antwort: total bescheuert!
Schade, ich hätte gedacht, dass du mehr Verständnis für das kleine Inselvolk und seine wohl begründeten Schutzmaßnahmen hast. Natürlich gehörst du auch zu denen, die im Moment keine Einkünfte aus dem Tourismus haben, aber ich finde, dass es sehr kurz gedacht ist, die Maßnahmen der Regierung zum Schutz der Bevölkerung dermaßen in Frage zu stellen. Irland hat, wie du weißt, bei weitem nicht das Gesundheitssystem, auf das wir in Deutschland stolz sein können und darum galt es gerade in Ireland als absolut lebensnotwendig, die Kurve flach und flacher zu halten. Auch in Hinblick auf die offene Grenze und dem täglichen, unkontrollierten Grenzverkehr nach NI, zumal das englische Mutterland am Anfang ja einen ganz anderen Kurs fuhr.
Ich bin stolz auf die irische Bevölkerung, die die Maßnahmen nicht kritisiert hat sondern sie angenommen hat ohne zu meckern. Und das liegt nicht daran, dass die Iren brave Schafe sind, die alle in die vorgegebene Richtung trotten, sondern, dass die Iren ein stolzes Volk sind, das auch in Krisenzeiten zusammenhält anstatt sich gegenseitig für ganz egoistische Interessen aufzutauchen.
Liebe Sangeeta,
lies einfach einmal unvoreingenommen den Text und Du wirst fest stellen, dass ich ganz einfach die aktuelle Debatte in Irland beschreibe und keine eigene Position beziehe. Dein Denken, dass jeder immer nur so schreibt, dass es ihm oder ihr zum eigenen Vorteil gereicht, ist gelinde gesagt ein wenig schlicht. (Ich habe übrigens schon im vergangenen Winter an dieser Stelle klar kommuniziert, dass wir mit Wanderlust, unserem Wanderreise-Veranstalter aufhören werden, ich habe da keine wirtschaftlichen Interessen mehr.) Wenn ich schreibe, dann um zu sagen, was ist.
Ferner: Findest Du es nicht ein wenig anmaßend, gleich auf ein ganzes Volk stolz zu sein? Du kannst als Mutter auf eine Tochter oder einen Sohn stolz sein, auf Deine Arbeit, vielleicht noch auf den gut gewählten Partner, aber gleich auf die ganze irische Bevölkerung? Die wird sich freuen ;-)
Zudem könntest Du eventuell Deine grüne Brille einmal putzen . . .
Lieber Markus,
absolut nachvollziehbare Antwort.
Manchmal sollte man einen Text zwei- oder dreimal lesen, bevor man sich dazu, wie auch immer, äussert. Zumal man als Aussenstehender kaum die Situation genau kennt, geschweige denn beurteilen kann.
Dein abschließender Satz mit der Grünen Brille ist sehr zutreffend ? auch für viele andere Irlandreisende!
Ich mag deine realistischen, offenen und direkten Irlandnews zur jetzigen Situation und vielen anderen Themen der Insel.
Alles Gute für euch und bleibt gesund ?… wir kommen gerne zurück auf die Insel, wenn es an der Zeit ist.
Lieber Markus!
Bei uns in Österreich war es ähnlich, wir waren ziemlich die ersten, die drastisch alles schlossen. Ehrlich gesagt, es gab Zeiten, wo ich ebenfalls Angst hatte, wenn man rüber nach Italien schaute mit den tausenden Toten. Man wusste ja nicht wie es weitergeht.
Wir haben eine Garten, die Isolation empfand ich nicht so schlimm, im Gegenteil, ich genoss die Ruhe – wohnen gegenüber der Feuerwehr, die viele Übungen machen, seither aber keine mehr, und auch der Verkehr ist sonst stark an unserer Strasse.
Nun ist einiges wieder geöffnet, aber…
Es macht keinen Spaß mit Masken bummeln zu gehen, oder sich nur wenige treffen dürfen. Es macht keinen Spaß in diese abgegrenzten Lokale zu gehen, wo auch auf den Tischen nichts mehr stehen darf ( Salz, Ketchup usw.), es ist einfach anders, ganz anders. So bleiben wir daheim, die Wohnung wurde teilrenoviert, im Garten gibt es viel Neues, angepflanztes, auch einen Weissdornbusch, und Eschenbaum. Die Regierung und Bevölkerung wurde erst gelobt , erstere jetzt verteufelt, Wirtschaft ist am Boden, Arbeitslosigkeit riesig. Man schaut nach Schweden, (ist uns ähnlich in Zahlen) die liessen vieles offen, haben doppelt so viele Erkrankte aber 6x mehr Tote als wir. Wie man es macht oder machte, keiner weiss was richtig ist. Ich wollte unbedingt noch einmal nach Uisneach, Doch wie es heute aussieht, weiß ich nicht, ob ich es noch schaffe, altersmäßig meine ich.
Was bleibt uns?
Angst vielleicht wegen der Zukunft, Hoffnung dass doch noch etwas an Normalität zurück kehrt, ich weiß es nicht. Im Moment sehe ich eher mittelgrau, schwarz ist weg, und irgendwas kommt sicher heraus, bei dieser neuen unbekannten Situation.
Jedes Land wird es massiv spüren, also eher die Leute, doch haben wir alle nicht viel zu gedankenlos gelebt, als gäbe es kein Morgen? Ressourcen verschwendet, Klima- ist mir doch egal, gelebt nach dem Motto: ich bin mir wichtig, einschränken? Nie!
Schauen wir was in einigen Monaten passiert…
Ich wünsche allen schöne Tage…
Edith
Liebes schönes grünes Irland,ich denke jeder geht mit Ängsten anders um und eine gesunde Angst ist normal als Schutz für einen selbst.
Ob jetzt einen oder zwei Meter Abstand ist doch nicht der Rede wert.
Hauptsache man schützt sich gegenseitig.
10.August bis dahin ist noch lang und da ist eine Existenzangst berechtigt.
Die Eu will für sehr angeschlagene Länder einen finanziellen Rettungsschirm und ich denke sollte Irland wirtschaftlich mehr schwächeln wird auch Irland geholfen das wäre doch nur gerecht,natürlich muss die EU da mit Vorsicht rangehen damit diese Unterstützung nicht missbraucht wird und tatsächlich für das eingesetzt wird,Gesundheitssystem,den wirklich Schwächeren und Aufbau der Wirtschaft damit die EU wirtschaftlich sich erholt und langsam Gewinne macht aber nicht auf Kosten der Schwächeren und zu Gunsten der Korrupten.
Es ist Globalweit nicht einfach jeder kämpft um seine Existenz .
Wenn man das traurige Problem in China anschaut,Kontrolle Diktatur, die Machtspiele unter den regierenden Ländern und es ist halt so wie es immer ist es gibt eben auch die die das System missbrauchen.
Richard David Precht hat mit einem Professor der Soziologie diskutiert und die Gleichheit unter Menschen vor allem unterbezahlte Jobs etc angesprochen,darauf ist er der Soziologe gar nicht eingegangen sondern hat nur den Klimawandel angesprochen.
Soviel dazu was das Soziale und die extreme Ungleichheit anbelangt unter Menschen ,soviel zur Solidarität und Menschenrechte.
Es gibt nur ein Vorwärts und Hoffen dass die Digitalisierung Homeoffice was vermehrt kommen wird sowie Berufe die wichtig sind aber unterbezahlt ,eine positive Änderung eintrifft.
Die Vermögenssteuer eingeführt wird da fällt keinem Reichen eine Zacke aus der Krone.
Den wie will die Wirtschaft belebt werden,wenn alle unterbezahlt sind und sich nur das Notwendigste leisten können.
Das Klima Problem ist auch wichtig also das Geld der EU muss kontrolliert und selektiv umgesetzt werden.
Abgesehen davon, kostet es sehr viel Klimakonform zu Leben.
Liebes Irland, ich wünsche zu Pfingsten schönes Wetter ,bleibt gesund ,liebe Grüße aus Vorarlberg Österreich.
Daaaaanke! Ein toller, humorvoller und doch aufklärender (soweit möglich ?) Artikel! Er macht so richtig Lust auf diese in jeder Hinsicht einmalige Insel ?
2 Wochen Zwangsquarantäne würden aber selbst wir hardcore fans nicht inkauf nehmen!!
Herzliche Grüße aus Berlin
Gabi + Hans