Eine lebendige Sprache
strömt übers Land, erwartet den Sonnenaufgang
wartet auf den Übergang. Wartet darauf, dass ihr Schatten
sich erhebt und den Horizont durchbricht.

Jean O’Brien
(aus dem Gedicht „Hare“)

 

Jammern hilft … manchmal.

In der Einführung zur vorletzten „Lyrik am Sonntag“ schrieb ich von den Schwierigkeiten, die Abdruck- und Übersetzungsrechte für „neuere“ Gedichte zu bekommen. Unter Mithilfe von Markus haben sich mir inzwischen Quellen aufgetan, die möglicherweise zeitgenössischen Lyrikern hier ein Podium bieten können.

Auf der Website des quirlig-kreativen Salmon Poetry Verlags sind irische Autorinnen und Autoren vernetzt und präsentieren ihre Gedichte. Beim Stöbern dort wurde ich auch auf die Autorin Jean O’Brien aufmerksam.

Zudem erstaunte es mich, dass die gute alte Irish Times eine wöchentliche Gedichte-Rubrik hat, mit einer wunderbaren Mischung von bekannten Poeten und aufstrebenden Lyrikern. Wo gibt es so etwas in deutschen Printmedien? Scheint mir auch Ausdruck der Lebendigkeit irischer Poesie zu sein und Zeichen dafür, dass Lyrik auch im medialen Trubel noch gelesen und wertgeschätzt wird. Schön!

 

Die Lyrikerin Jean O’Brien

Jean O`Brien lebt und arbeitet in Dublin.  Sie hat bereits vier Lyrik-Sammlungen veröffentlicht: The Shadow Keeper (1997), Dangerous Dresses (2005), Lovely Legs (2009) und Merman (2012). Im Herbst 2021 wird ein neuer Band “Stars Burn Regardless” erscheinen.

Sie nahm an zahlreichen  Wettbewerben teil. Zu ihren Auszeichnungen gehören der Arvon International Poetry Award und der Fish International Poetry Award. In ihrem Brotberuf ist sie Dozentin für Kreatives Schreiben am Trinity College in Dublin. Am 9. Januar 2021 veröffentlichte die Irish Times das Gedicht “Still Here” auf ihrer Lyrikseite. Ich hatte Gelegenheit, mit Jean ein Mail-Interview zu führen:

 

Vier Fragen an Jean O’Brien

 

Wie sind Sie dazu gekommen, Gedichte zu schreiben?

Ich habe Poesie immer geliebt. Als junger Teenager hatte meine Mutter ein Exemplar von Palgraves „Goldener Schatzkammer“, mit all den Größen Blake, Herrick, Shakespeare, Wyatt, Lord Byrone, Christine Rossitti, Keats und anderen. Ich habe viel Zeit damit verbracht, es zu lesen. Wir hatten kein Fernsehen oder Telefon, bis ich fünfzehn war; also gab es nicht viel anderes zu tun als zu lesen.
Meine Mutter brachte sich in dem Sommer um, in dem ich 15 wurde, und etwa fünf Jahre später begann ich, Gedichte zu schreiben, um mir selbst zu erklären, was passiert war. Das hat sich dann ausgeweitet (zum Glück), obwohl es immer noch ein Thema ist, das mich umkreist.

Ich fing erst an, das Schreiben ernst zu nehmen, als ich in meinen Zwanzigern an einem Schriftsteller-Workshop teilnahm und dann nach und nach anfing, Arbeiten zu veröffentlichen. Ich hatte es mit Kurzgeschichten und Journalismus versucht, aber mein Herz war nicht dabei. Mit Anfang vierzig machte ich schließlich einen Master-Abschluss in Kreativem Schreiben und Lyrik am Trinity College in Dublin, und zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits drei Sammlungen veröffentlicht. Ich habe die Zeit, die mir das Studium gab, sehr genossen, um mich in die Poesie zu vertiefen und zu lesen, lesen, lesen.

 


Alle Gedichte der Irlandnews-Serie Lyrik am Sonntag können Sie hier aufrufen: Lyrik am Sonntag


 

Welches sind Ihre Lieblingspoeten?

Meine Lieblingsdichter wechseln von Zeit zu Zeit. Ich bin fast obsessiv, irgendwann nutzen sie sich aber ab.  Wenn ich von einem Dichter besessen bin, will ich alles über ihn wissen, über sein Leben, seine Liebe ect. Ohne eine Reihenfolge angeben zu können, war ich beeindruckt von Ann Sexton, Simon Armitage (aktueller britischer Poet Laureate), Sylvia Plath, Paul Muldoon, Yeats, Kavanagh, Gillian Allnut.

 

Welche Rolle spielt Poesie in der irischen Kultur heute?

Da ich selbst Dichterin bin, denke ich natürlich, dass sich jeder dafür interessiert und bin überrascht, wenn dies jemand nicht tut. Glücklicherweise ist unser derzeitiger Präsident Michael D. Higgins selbst Dichter und hat immer versucht, die Künste in Irland zu fördern.

Wir sind ein gefühliges Volk und lieben unsere Poesie. Ich unterrichte amerikanische Studenten (in Dublin) und sie sind immer wieder erstaunt, dass die meisten Menschen ein paar Verse rezitieren können, die sie normalerweise in der Schule gelernt haben. Und als Nation trauerten wir um den Tod unseres letzten Nobelpreisträgers Seamus Heaney. Als er starb, gab es eine Schweigeminute und einen donnernden Applaus während eines ausverkauften Fußballspiels.

Einige unserer Gedichte wurden in Lieder verwandelt, wie z.B. The Dawning of the Day, geschrieben von Patrick Kavanagh und gesungen von einem der Dubliners Luke Kelly. Es gibt noch weitere Songs wie Yeats Down by the Sally Gardens.

Drei der Unterzeichner unserer Proklamation von 1916, in der wir unsere Trennung von Großbritannien erklärten, waren Dichter und wurden  hingerichtet. Ihre Poesie wird aber heute noch gelehrt und gelesen.

Wir haben wöchentlich eine eigene Radiosendung mit Lyrik und Gedichten. Ich hatte das Glück, dass ein Gedicht von mir ausgewählt wurde und in der Dubliner Schnellbahn DART (Dublin Area Rapid Transit) gezeigt wurde.“

 

Wenn Sie zaubern könnten: Was wünschten Sie sich für sich selbst und für uns alle?

Soll ich mit „Weltfrieden“ antworten? Nein, ich wünsche mir einen hohen Lottogewinn, damit ich die dringend benötigte Renovierung der Büros von Poetry Ireland in Dublin bezahlen könnte, da sie versuchen, Millionen für genau das aufzubringen. Ansonsten würde ich mir wünschen, ein Top-Poet („knockout poet“) zu sein. Ach ja, und natürlich Weltfrieden!

(Übersetzung W. Bartholme)


 

 

Jean O’Brien
(Foto: salmonpoetry.com)

 

STILL HERE

Jean O’Brien

 

When all this is over and we have
obeyed the freshness of water,
the susurrations of air, we will
still know death’s piercing scent. It is
the sweet-grass smell of tarragon,
mixed with the pungency of lemon thyme.
We must not forget that the forests
hold our breath, every leaf –
a green promise,
every bud – a gift.
We will circle the wagons,
treasure the warmth of our fire,
lambent flames reflecting their glow
in our eyes. We must hold on,
with the stalking fox, the howling
wolf, the swimming fish, the birds
wheeling in the air and us, holding on,
all here. All still here.

 

 

Jean O’Briens Gedicht greift die schwindende Hoffnung auf, die uns in den Menschheitskrisen Klimawandel und Naturzerstörung befallen kann. Sie spricht von einer Zeit, in der selbst der einfachste Akt des Atmens von Angst durchdrungen ist. Jean nimmt in „Still Here“ den überwältigenden und unvergesslichen Duft des Todes schon in alltäglichen Dingen wahr: zum Beispiel im “süßlich-grasigen Duft des Estragons/ gemischt mit der Schärfe von Zitronenthymian”.

Auch wenn das Gedicht düster beginnt, öffnet es sich doch in die Weite, in ein Versprechen, in eine grüne Zusicherung, die schon allein jeder Knospe innewohnt. Ob dieses Versprechen, ob die Hoffnung auf ein Zusammenstehen nicht nur aller Menschen, sondern von Mensch und Natur trägt?

Ist es nicht schön, wie sich das noch unbestimmte Wir des Anfangs gegen Ende zu einer kollektiven Identifikation ausweitet, in ein Alle, das alle Lebewesen einschließt: “alle hier. Wir alle noch hier.”

 

Herzlichen Dank an Karin Mangold-Schneider für die Unterstützung bei der Textübertragung.

 

 

 

Bild: Werner Bartholme; Regenbogen – Donegal 2007

 

Quellen: Mailkontakt mit Jean O’Brien; Jeans Website.
Irish Times Poem of the week
Der Lyrik-Verlag Salmon Poetry in Ennistymon, County Clare, der in diesem Jahr 40jähriges Bestehen feiert.